© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

„Das ist die Wurzel des Rassismus“
Der Fall Chemnitz offenbart einen tiefen Einblick in den Seelenzustand unseres Landes, der uns Sorgen machen sollte, warnt der bekannte Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz
Moritz Schwarz

Herr Dr. Maaz, Sie sagen, in Sachsen gäbe es wohl „kein besonderes Rechtsextremismusproblem“, aber ein „Protestproblem“.

Hans-Joachim Maaz: Ja, weil aus dem berechtigten Protest Tausender friedlicher Bürger medial ein Rechtsextremismusproblem gemacht wird. 

Inwiefern?

Maaz: Lassen Sie mich das mal aufschlüsseln: Zuerst ist da die Tötung des Chemnitzers Daniel H., mutmaßlich durch Migranten – was für Politik und Öffentlichkeit doch der eigentliche Anlaß sein müßte, sich zu äußern. Zweitens wirft sein Fall ein Schlaglicht auf die durch ungeregelte Masseneinwanderung und mangelnde Integration verursachten Mißstände im Land, mit denen viele Bürger im Alltag konfrontiert sind. Und drittens ist da das Ignorieren, wenn nicht Schönreden, dieser Probleme, oder zumindest deren ganzen Ausmaßes, durch einen großen Teil der Politik – was dann schließlich in der Abwertung des bürgerlichen Protests dagegen mündet. So sprach Regierungssprecher Steffen Seibert bekanntermaßen von „Zusammenrottungen“ und „Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft“ – was sich offenbar als Falschmeldung herausgestellt hat. Was aber sicher wesentlich dazu beigetragen hat, den Protest zu diffamieren, so daß nicht mehr wirklich unterschieden wird zwischen den Pöbeleien und der Gewalt, zwischen rechten und linken Extremisten und dem Bürgerprotest.

Die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig kommentierte diesen gar mit den Worten: „Niemand kann sagen, daß er nicht weiß, wo Rechtsradikalismus, wo Nationalsozialismus hinführt.“ 

Maaz: Leider gibt es auch ein Problem mit Rechtsradikalismus, und ich kann nur hoffen, daß alle diesbezüglichen strafwürdigen Vorfälle auch bestraft werden. Aber die Aussage der Bürgermeisterin geht am aktuellen Problem vorbei: Der Anlaß der Proteste sind die Folgen einer falschen Migrationspolitik mit einer Spaltung der Gesellschaft. Auf das Für und Wider der Migration springen die Extremisten auf. So haben wir statt einer vernünftigen Diskussion affektiv aufgeladene Hetze von allen Seiten: zum Beispiel gegen Pegida, gegen die AfD, gegen Ausländer, gegen die Politik – aber leider auch durch Politiker und durch die Medien. Selbst das Motto der „Gegen Rechts“-Demo in Chemnitz vom vergangenen Sonntag „Herz statt Hetze“ ist Hetze.   

Was haben Sie an dem Motto auszusetzen? 

Maaz: Daß es die Spaltung vertieft. Die sogenannten Gegendemonstranten wähnen sich dann pauschal als die Guten und die Wahren und alle anderen als die Bösen und die Falschen. Jeder Extremismus lebt davon, das Eigene angeblich zu veredeln und das andere abzuwerten. Das ist die Wurzel des Rassismus.  

Der Begriff „Rassismus“ soll doch etwas aufdecken, nämlich daß eine Diskriminierung rassisch motiviert ist. Wenn er aber so, also im Grunde falsch verwendet wird, welchen Sinn hat er dann noch? 

Maaz: Inzwischen sind Begriffe wie Rassist, Extremist, Populist, Sexist zu verbalen Waffen verkommen, um gesellschaftliche Entwicklungen und Konflikte nicht mehr sachlich zu diskutieren, sondern moralisierend zu tabuisieren und zu verschleiern.    

In puncto „Hetzjagd“ haben wir das Kanzleramt schriftlich darum gebeten, die „Videobeweise“, von denen die Kanzlerin vergangene Woche sprach, öffentlich zugänglich zu machen. Resultat: Keine Antwort. Glauben Sie an eine Erfindung? 

Maaz: Es sieht doch ganz danach aus. 

Die Sache wurde weltweit aufgegriffen, sogar die Uno hat deshalb ihre Besorgnis ausgedrückt. Politik und Medien hätten in diesem Fall das eigene Land grundlos international an den Pranger gestellt.  Warum sollten sie das tun?   

Maaz: Deutschland steht im Brennpunkt der Migrationspolitik. Die deutsche Regierung wird dafür sowohl gelobt wie auch schwer kritisiert. Die Chemnitzer Ereignisse sind durch Migrationsprobleme ausgelöst. Indem sehr rasch auf das Thema Rechtsextremismus hin abgelenkt wurde und durch den in der Folge einsetzenden „Kampf gegen Rechts“, samt „Herz statt Hetze“ und Kampf für „Demokratie und eine offene Gesellschaft“, ist das eigentliche Problem sozusagen verschwunden – für das der Tod des Daniel H. mutmaßlich steht. So der Fall sich so bewahrheitet, wie er sich derzeit darstellt. Noch schweigt ja die Staatsanwaltschaft zum genauen Tat­hergang.   

Protest gegen die Migrationspolitik wird also als demokratiefeindlich gewertet?

Maaz: Ich glaube, daß dies die eigentliche Angst und Sorge vieler Bürger und Bürgerinnen ist, daß reale Bedrohungen und Veränderungen – durch Migration, durch die Entwicklungen in Europa, die Schwierigkeiten mit dem Euro, den Umgang mit Rußland, die Entwicklung in den USA etc. – nicht mehr offen und wahrheitsgemäß diskutiert, sondern zunehmend durch eine Art „Diktatur“ der Politischen Korrektheit nur noch einseitig, tendenziös, moralisierend dargestellt werden (dürfen). Viele Menschen verschließen lieber die Augen, wenn die bisherigen Verhältnisse unsicher werden – und dann wollen sie auch niemanden hören, der die schlechten Nachrichten überbringt. Da ist wohl auch das Geheimnis der Macht der Bundeskanzlerin.     

Was meinen Sie? 

Maaz: Wundern Sie sich nicht, daß sie  sich immer noch halten kann, nach all den Fehlern und dem Unmut, nachdem sie erst mit dem Euro, dann mit der Flüchtlingspolitik Europa und die Deutschen gespalten hat. Was also ist ihr Geheimnis? Vermutlich ist sie so etwas wie eine Droge für das Volk, eine Art Sedativ. Sie verkörpert Beruhigung in Zeiten der Unruhe, die Wunschvorstellung, daß es gar keine Krise gibt – zumindest keine, die nicht zu bewältigen ist. Sie steht dafür, daß alles doch irgendwie unter Kontrolle ist, und für die Hoffnung, daß es weitergehen könnte wie bisher und nicht alles ins Ungewisse stürzt. 

Welche psychologische Erklärung haben Sie dafür, daß man im Fall Chemnitz vom eigentlichen Problem ablenken will? 

Maaz: Viele Menschen erleiden in ihrer Entwicklung Verletzungen und Kränkungen, die oft noch durch soziale Konflikte verschärft werden. Meistens sind es Verletzungen des narzißtischen Selbstwertes. In der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen kann man durch besondere Anstrengungen und Leistungen ein, wie ich es nenne, „Größenselbst“ entwickeln – das nach 1945 besonders im kapitalistischen Westen durch Wohlstand und Konsum gefördert wurde. Auch in der DDR wurde das versucht, hier allerdings mehr durch die Ideologie der moralischen Überlegenheit, für das geläuterte, antifaschistische und gerechtere Deutschland zu stehen. Doch diesem Anspruch ging mit der Zeit die Luft aus, er überzeugte einfach nicht mehr, um seine kompensierende Funktion zu erfüllen. Die DDR ist deshalb kollabiert. Und jetzt gerät die westliche Kompensation des „Wohlstands für alle“ in die Krise.

Was hat das mit dem Verhalten von Politik und Medien in Sachen Hetzjagd zu tun?

Maaz: In der Politik finden wir, kaum überraschend, viele „Größenselbst“-Charaktere, die ihre Kränkungen durch Macht und Anerkennung kompensieren. Oft ist es solchen Leuten unmöglich, einen Fehler, sprich Schwäche, einzugestehen. Und anzuerkennen, daß die bisherige Kompensation durch materielle Erfolge eine kritische Grenze erreicht hat. Dann ist es eben leichter, auf eine angebliche Hetzjagd abzuheben, als die reale Gesellschaftskrise als Bedrohung zu erleben.   

Sie diagnostizieren einen Mangel an „innerseelischer Demokratie“. Was ist das?

Maaz: Demokratie hat sowohl eine äußere wie eine innerseelische Komponente. Die äußere Demokratie ist im Grundgesetz verankert. Die innerseelische Demokratie muß ganz individuell erworben, indem alle seelischen „Minderheiten“ – die Ängste, die Fehler, die Defizite etc. – erkannt und so verarbeitet werden, daß sie nicht auf andere zum Beipiel auch auf politische Gegner projiziert und dort bekämpft werden. Absolut demokratiefeindlich ist die Einstellung: „Mit denen reden wir nicht!“ Doch auch unreif bleibt die Einsicht: Wir müssen ihnen zuhören, ihre Sorgen ernst nehmen – weil dahinter die undemokratische Haltung steckt: Damit der andere endlich einsieht, daß er falschliegt! Demokratischer Disput dagegen wäre, wenn beide Seiten davon ausgehen, daß der Gegner auch recht haben und man selbst auch falschliegen kann. Dies wäre eine wirkliche Offenheit, die auf beiden Seiten zu neuen Erkenntnissen führen könnte. 

Zu Beginn von Pegida sagte ein Demonstrant einem Reporter: „Ich will nicht, daß die Politiker mir ihre Politik besser erklären. Ich will, daß sie mir einmal zuhören.“

Maaz: Eben. Und wenn es nicht auf beiden Seiten auch einmal zu einem „An dieser Sicht ist vielleicht auch etwas dran, ich muß darüber mal nachdenken“ gibt, dann können Sie mit Sicherheit davon ausgehen, daß es kein echter, kein demokratischer Dialog ist. Und dann wundert man sich, wenn der bürgerliche Protest sich zuspitzt – und damit sind natürlich nicht die Übergriffe von Extremisten gemeint – sondern die Ohnmacht und Empörung darüber, daß man nicht verstanden werden will und es keine Bereitschaft gibt, daß sich auch die Mächtigen oder die sogenannten Guten irren können.  

Aber warum provozieren AfD und Pegida überhaupt so sehr?

Maaz: Wir müssen unterscheiden, daß  zum einen Pegida und AfD Inhalte zum Ausdruck bringen, von denen sich andere provoziert fühlen, weil sie die Realitäten nicht anerkennen wollen oder eben anderer Meinung sind. Und daß zum anderen bei deren Protesten aber leider immer auch Extremisten und Provokateure auftreten, die es dann schwermachen, den inhaltlichen Protest noch wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Ohne innerseelische Demokratie braucht der Mensch ein Feindbild, auf das die eigenen geleugneten Probleme projiziert werden können. So werden zum Beispiel der „Erzfeind“, der „Klassenfeind“, der „Jude“, der „Rechtsextremist“, aber auch der „Fremde“ zum häßlichen oder bösen Menschen gemacht, mit der Illusion, das eigene Böse damit ausgelagert und gebannt zu haben. Und im Kampf gegen „das Böse“ kann man sich dann besonders gut fühlen.  

Warum fallen all diese Offensichtlichkeiten eigentlich nicht öffentlich auf? In Chemnitz etwa gibt es auf beiden Seiten eine friedliche Mehrheit und eine gewaltbereite Minderheit. Diese Parallele können die Medien doch gar nicht übersehen. 

Maaz: Richtig, eigentlich würde man das meinen. Und daß es dennoch zu einer so offensichtlichen Ungleichbehandlung beider Seiten kommt, ist nur schwer zu ertragen. Aber als Psychotherapeut mit langjähriger Erfahrung kann ich Ihnen sagen, daß das Offensichtliche wahrzunehmen für viele Menschen zu herausfordernd ist. Denn das übersteigt oft ihr Maß an kritischer Selbstreflexion, verlangt ihnen ab, eigene Unzulänglichkeiten anzuerkennen, was ihren Kompensationsmechanismus in Frage stellen würde.

Auf der anderen Seite sehen Sie den „Gefühlsstau“, wie Sie sagen.

Maaz: Ja, der entsteht wenn Affekte sich nicht äußern dürfen, etwa weil sie sozialen Normen widersprechen. Zum Beispiel wenn jemandem verboten ist, gewisse Gedanken, Sorgen oder Nöte zu äußern, weil man dann gesellschaftlich stigmatisiert wird. Also hält man das zurück, bis dieser Affektstau irgendwann sozusagen explodiert. In Chemnitz ist das in Gestalt der Wut vieler Bürger auf die Politik gerade wieder deutlich geworden. Wir Psychotherapeuten leben davon, daß Menschen an ihrem Gefühlsstau krank werden. Therapie ist dann eine wesenliche Hilfe der Selbsterkenntnis. Aber leider wird der Gefühlsstau oft auch auf die Straße getragen und kämpferisch oder mit Gewalt sozial ausagiert.

Vielen verzweifelten Bürgern erscheint die AfD als Antwort, aber gilt Ihre Größenselbst-Analyse nicht ebenso für deren Politiker und der Mangel an innerer Demokratie für ihre Mitglieder und Unterstützer? 

Maaz: Die AfD erfüllt in der äußeren Demokratie zum Beispiel die wichtige Funktion der Opposition, die von den anderen Parteien nicht mehr gewagt worden war. Aber ohne das Bemühen um eine innerseelische Demokratisierung würde sie an der Macht sicher auch keine bessere Politik machen. 

Also würde im Fall des Falles nur eine „Kanzlerdiktatorin“ Merkel durch einen „Kanzlerdiktator“ Gauland ersetzt? 

Maaz: Das stünde zu befürchten. 

Ist Ihre Vorstellung von echter Demokratie also eine Fiktion? 

Maaz: Vielleicht ist sie tatsächlich nicht zu erreichen, aber ich glaube, daß zumindest Verbesserungen möglich sind.

Presse, Radio, Fernsehen – Sie haben schon in zahllosen Leitmedien in Interviews Ihre Empfehlungen gegeben, geändert aber hat sich nichts.     

Maaz: Das stimmt, und manchmal könnte man verzweifeln. Und schon oft habe ich beschlossen, mich aus den Medien zurückzuziehen, weil es alles nichts zu bringen scheint. Dann aber höre ich wieder von so vielen Menschen, wie gut und wichtig meine Analysen doch seien. Und so viele bedanken sich, nicht weil ich mit allem recht hätte, sondern, wie sie sagen, weil ich sie anrege und ihnen helfe, die Dinge zu reflektieren. Und das gibt dann den Mut und die Kraft,  doch nicht aufzugeben. 






Dr. Hans-Joachim Maaz, der Psychiater und Psychoanalytiker ist durch zahlreiche Veröffentlichungen und Auftritte in Fernsehen, Rundfunk und Presse bekannt geworden. Seit seinem Bestseller „Der Gefühlsstau“ (1990) gilt er als „Kenner der deutschen Befindlichkeit“ (ZDF). Maaz, geboren 1943 im böhmischen Niedereinsiedel, war von 1980 bis 2008 Chefarzt der Psychotherapeutischen und Psychosomatischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Das gestürzte Volk. Die verunglückte Einheit“ (1991) und „Die narzißtische Gesellschaft“ (2012), mit dem ihm ein „Psychogramm der Bundesrepublik“ (Spiegel) gelungen ist. Zuletzt erschienen ist: „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ (2017)

 

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