© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Udo Schnelle kritisiert die Politisierung des Glaubens durch die evangelische Kirche.
Jesus oder Abraham?
Gernot Facius

Lange hat er geschwiegen und sich auf seine wissenschaftliche Arbeit konzentriert; seine „Einleitung in das Neue Testament“ gilt als  Standardwerk. Nun nimmt Udo Schnelle, der erst in Erlangen, dann an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg lehrte, nach vierzig Jahren Arbeit in Theologie und Kirche kein Blatt mehr vor den Mund, wenn es um den Zustand des Protestantismus geht. Salopp gesagt: Dem Emeritus ist ob der Äußerungen evangelischer Bischöfe zur Migrationspolitik der Kragen geplatzt. „Die Kirche“, schrieb Schnelle, „verspielt ihre Zukunft, wenn sie sich als Moralagentur höherer Ordnung inszeniert und den Eindruck erweckt, als sei das Evangelium ein sozialpolitisches Programm.“

In einem Beitrag für das evangelische Nachrichtenmagazin idea Spektrum spitzte der 1952 in Nauen bei Berlin geborene Havelländer seine Meinung weiter zu: „Sie verspielt ihre Zukunft, wenn sie Menschen mit anderen politischen und kulturellen Vorstellungen stigmatisiert, wie es vor allem mit Christen aus Ostdeutschland in den letzten drei Jahren passiert ist.“ Man kann das als Antwort auf überbordende Kritik an den Montagsdemonstranten und anderen Skeptikern der Migrationspolitik deuten. Schnelle scheut sich nicht, von einem Klima der Einschüchterung und Selbstzensur in seiner Kirche zu sprechen. Vehement widerspricht er gängigen EKD-Meinungen, die suggerieren, es könne keine Grenzen der Aufnahmepflicht und keine Begrenzung ethischen Handelns geben: „Ohne Begrenzung ist keine Integration möglich.“ 

Auch theologisch sei die Forderung der Grenzenlosigkeit falsch, denn Jesu radikale Nächstenliebe beziehe sich auf die individuelle Alltagsethik und nicht auf globale Prozesse des 21. Jahrhunderts. Und er erinnert an die „gute Schöpfergabe der Vernunft“, sie sei das entscheidende Kriterium in ethischen und politischen Fragen – nicht eine angeblich höhere religiöse Einsicht. 

Klar, mit diesen Thesen und dem Vorwurf der politischen Willfährigkeit, etwa bei der Zustimmung zur „Ehe für alle“, stellt sich der Theologe in gut konservative Tradition gegen den Zeitgeist seiner Kirche. Das gilt auch für seinen Hinweis auf das, was im Dialog mit dem Islam schiefläuft: die Reduktion des biblischen Wahrheitsanspruchs. Dabei gehe es nicht um irgend etwas, sondern um den Kern des christlichen Glaubens: das Gottesverständnis. Schnelle wagt die Prognose: Der Islam werde hierzulande in den nächsten fünfzig Jahren zu einem entscheidenden religiösen Faktor werden, allein aus demographischen Gründen.  Und so wird sich die schrumpfende evangelische Kirche nicht um die entscheidende Frage herumdrücken können: Bekenntnis zum biblischen Zeugnis – oder zum „Glauben an den gemeinsamen abrahamitischen Gott“. Es geht, so Udo Schnelle, um nichts weniger als den Selbstbehauptungswillen der evangelischen Christen.