© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Ein Trauerspiel
Chemnitz und der blockierte Schweigemarsch: Reportage aus einer Stadt in Aufruhr
Lukas Steinwandter

Doch doch, hier geht das Leben seinen gewohnten Gang, versichert die Wirtin am Schillerplatz. Gäste bestellen ihre Speisen und Getränke, die Bedienungen eilen mit vollen Tabletts umher. An der Aussprache deutlich hörbar: Man befindet sich in Sachsen. „Der Protest am Montag war nötig. Die Regierung in Berlin weiß jetzt, was die Leute hier denken. Das Faß war wirklich übergelaufen, jetzt ist der Druck raus“, beschreibt die Mittfünfzigerin die Lage hier im Zentrum der Stadt Chemnitz.

Doch die Luft scheint noch nicht draußen zu sein. Es ist Samstag mittag. In wenigen Stunden beginnen ebenfalls  in der Innenstadt mehrere Demonstrationen. Die Polizei erwartet über 10.000 Teilnehmer. Auch eine Woche nach der Messerattacke, bei der ein 35 Jahre alter Deutscher erstochen und zwei weitere schwer verletzt wurden, kommt die 250.000-Einwohner-Stadt nicht zur Ruhe.

Um den Tatort an der Brückenstraße stehen und liegen unzählige Grablichter und Blumensträuße. In der Mitte ein schlichtes Holzkreuz mit Trauerflor und roter Rose. Hier sollen am Rande des Stadtfestes am letzten Augustwochenende zwei angeblich aus Syrien beziehungsweise dem Irak stammende Männer auf den Familienvater Daniel H. eingestochen haben.Wie sich später herausstellt, kamen beide im Jahr 2015 nach Deutschland.

 Jetzt diskutieren hier mehrere Dutzend Anwesende über die Flüchtlingspolitik, rechte Gewalt und die Medien. Plötzlich ist es still. Der frühere Grünen-Chef und Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir taucht auf, umringt von drei Personenschützern und mehreren Journalisten. Er stellt sich vor den improvisierten Gedenkort und faltet die Hände. Er hält kurz inne. Dann geht er ein paar Schritte weiter, um Interviews zu geben, in denen er sagen wird, daß die CDU-geführte Landesregierung in der Pflicht stehe, sich gegen Rechtsradikalismus und AfD einzusetzen. Später wird er an der Kundgebung „Herz statt Hetze“ teilnehmen.

Mehrere Frauen beobachten Özdemir schweigend. Eine von ihnen ballt die Fäuste, ihre Lippen beben. „Ich bin entsetzt“, faucht sie. „Was bildet der sich ein, hier herzukommen und angeblich zu gedenken, wo er doch mit schuld ist an dem Mord.“ Die junge Mutter will ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, zu groß sei die Gefahr, als „Nazi“ zu gelten, sagt sie und zeigt auf ihren Sohn. „Meine Tochter kann ich nicht mehr alleine draußen spielen lassen, so wie ihn früher.“ Die anderen Frauen nicken. Immer wieder kommt es zu lautstarken Diskussionen zwischen Passanten und späteren Demonstrationsteilnehmern, immer wieder auch zu Pöbeleien und Beleidigungen. Das ist an diesem Nachmittag nicht nur am Tatort der Fall. Vor dem Karl-Marx-Monument muß die Polizei eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung des Bündnisses Pro Chemnitz Streitereien schlichten.

„Pro Chemnitz“ dockt an AfD-Demonstration an

Am nahe gelegenen Johannisplatz wehen rote und grüne Parteifahnen. Auf Transparenten steht „Nie wieder 1933 – und dann kam Chemnitz. Es reicht!“ oder „Rassismus raus aus den Köpfen“. Ein „breites Bündnis“ hat zu der „Herz statt Hetze“-Veranstaltung aufgerufen, darunter „Chemnitz nazifrei“ sowie SPD, Grüne, Linkspartei und CDU. Unter ihnen befinden sich aber auch mehrere hundert Anhänger des linksextremen „Schwarzen Blocks“, die später mit Gewalt versuchen werden, zu dem von AfD und Pegida angemeldeten Trauermarsch vorzudringen.

Warum ist die Stimmung auch am siebten Tag nach dem Tod des 35jährigen Deutschen mit kubanischen Wurzeln so aufgeheizt? Eine Erklärung dürften auch die zwischenzeitlich bekanntgewordenen Informationen über die dringend Tatverdächtigen sein. Zunächst veröffentlichte ein Justizvollzugsbeamter aus Dresden widerrechtlich den Haftbefehl gegen den Mann, der als Yousif A. auftritt. Der Beamte wurde suspendiert. Daß A. 22 Jahre alt sei und aus dem Irak komme, schienen drei von ihm vorgelegte Dokumente zu belegen. Diese erwiesen sich indes bei einer dokumententechnischen Prüfung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom Juni als Totalfälschung.

„Ich möchte, daß die Öffentlichkeit weiß, was geschehen ist“, schilderte der Beamte über seinen Anwalt die Beweggründe. „Ich möchte, daß die Medien nicht mehr die Hoheit haben, den tatsächlichen Tat­ablauf in Frage zu stellen, zu manipulieren oder auf eine ihnen jeweils genehme Art und Weise zu verdrehen“. Anschließend berichteten Welt und Nürnberger Nachrichten, der Asylsuchende hätte bereits am 13. Mai 2016 abgeschoben werden sollen.

„Vollzogen wurde die Abschiebung in der Folgezeit nicht, weshalb die Überstellungsfrist von sechs Monaten ablief und das Bundesamt verpflichtet war, erneut über den Asylantrag zu entscheiden“, sagte eine Sprecherin des Verwaltungsgerichts Chemnitz. Der angebliche Iraker habe seit Oktober 2015 in Sachsen gelebt. Den ersten Antrag soll das Flüchtlingsamt den Angaben nach 2017 als unzulässig abgelehnt haben. Auch der Fall des zweiten Tatverdächtigen, des angeblichen Syrers Alaa S., werde neu aufgerollt, wird das Bundes­innenministerium nach dem Wochenende mitteilen. Daß S. aus Syrien stamme, beruht lediglich auf dessen eigener Aussage.

Unterdessen wurde am Dienstag bekannt, daß ein dritter Mann als Mittäter dringend tatverdächtig ist. Der Gesuchte, nach dem gefahndet wird, soll ein Asylbewerber aus dem Irak sein.

Vor dem örtlichen AfD-Büro versammeln sich immer mehr Teilnehmer des Trauermarsches. Sie tragen dunkle Kleidung, dem Anlaß entsprechend und wie von der Partei gewünscht. Mehrere Parteimitglieder haben große Plakate dabei. Sie zeigen vor schwarzem Hintergrund Farbfotos meist junger Frauen, die von „Flüchtlingen“, Ausländern oder Islamisten getötet wurden, darunter den Namen sowie Ort und Jahr ihres Todes. Eine erschreckend große Zahl. „Das sind Merkels Opfer“, sagt ein AfD-Mitglied aus Hessen. „Ich bin heute hier, um zu trauern und auf die fatale Politik der Regierung hinzuweisen.“ Ansonsten sind keine Symbole oder Transparente erlaubt. „Wir haben uns heute hier allein unter Schwarz-Rot-Gold versammelt“, mahnt ein Sprecher mehrfach.

Kurz vor dem Start um 17 Uhr herrscht Aufregung bei der Versammlungsleitung. Pro Chemnitz, heißt es, habe seine Kundgebung abgebrochen und dazu aufgerufen, am Trauermarsch teilzunehmen. Doch dieser läuft dann gänzlich anders als geplant. Rund eine Stunde müssen die Teilnehmer an Ort und Stelle ausharren. Die Polizei prüft, ob genügend Ordner anwesend sind, schließlich sei die Teilnehmerzahl nun schlagartig gestiegen. Außerdem werden die Auflagen verlesen. Am Ende des Zuges fahren zwei Wasserwerfer und Dutzende Mannschaftswagen auf. Ein Hubschrauber kreist unter wolkenverhangenem Himmel. Noch immer kann sich der Protestzug nicht in Bewegung setzen – Gegendemonstranten blockieren mehrere Abschnitte. Einige Frauen, Ältere und Kinder setzen sich erschöpft wartend auf Bordsteinkanten. „Was für eine Schikane“, schimpft ein Demonstrant in Richtung Polizei. Immer wieder fordert vor allem der hintere Teil der Menge „Laufen! Laufen!“

Zur gleichen Zeit liefern sich Linksextreme ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei: Etwa 200 schwarz bekleidete, teils vermummte junge Männer durchbrechen am Stadthallenpark eine lose Polizeikette und versuchen, zum Trauermarsch vorzudringen. Die Polizei ist mit fast 2.000 Beamten aus mehreren Bundesländern vor Ort und hat alle Hände voll zu tun. Am Neumarkt tobt eine Gruppe Linksextremer unter „Alerta, Alerta, Antifascista“-Rufen, greift sich Stühle und Gläser auf der Terrasse eines Restaurants. Eine Passantin schreit auf. Ein Bierkrug hat gerade nur knapp ihren Kopf verfehlt. Mehrere Gäste fliehen in den Gastraum, einige verstecken sich hinter Säulen. Polizei ist keine da. Erst später setzt sie den „Schwarzen Block“ in einer Einkaufsstraße den weiteren Abend fest.

Eine Gruppe eritreischer Asylbewerber beobachtet die Szenen. Die Hälfte von ihnen hält einen Joint in der Hand. „Wir sind hier wegen der Meinungsfreiheit“, sagt einer in gebrochenem Deutsch. „Die Leute hier wollen nicht mit uns reden, nichts mit uns zu tun haben. Wir wollen weg aus Chemnitz, weg aus Sachsen. Aber das Bundesamt für Migration läßt uns nicht.“

Der Trauermarsch kommt nach einer Stunde endlich in Bewegung. Die AfD-Landeschefs von Sachsen, Thüringen und Brandenburg, Jörg Urban, Björn Höcke und Andreas Kalbitz, führen ihn an. Auch Pegida-Chef Lutz Bachmann steht vorne. Bereits nach rund 500 Metern kommt der Zug jedoch zum Stehen. Die Route sei blockiert von „Herz statt Hetze“-Teilnehmern, gibt die Polizei bekannt. Einige hätten sich zuvor Steine aus dem Gleisbett der Straßenbahn gegriffen. Und wieder warten.

Hooligans randalieren am Ende doch

Dann heißt es plötzlich: Die Versammlungszeit sei nun abgelaufen. Nach einer Dreiviertelstunde löst die AfD die Kundgebung auf. Die Polizei hat sich entschieden, die Blockade durch nur rund 200 Personen nicht zu räumen. Auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT begründet eine Sprecherin dies mit der Verhältnismäßigkeit: „Eine Räumung bedeutet immer auch Gewalt.“ Die Sicherheit und Ordnung müsse gewährleistet werden, weshalb die Polizei in Absprache mit dem Versammlungsleiter entschieden habe, den Trauermarsch zu beenden.

Die Masse der Teilnehmer verläßt langsam, nach und nach in Grüppchen den Ort. Zurück bleiben einige hundert zumeist Männer, die durch Auftreten und Kleidung vorwiegend der Hooligan-Szene und dem Milieu, das sich als „Nationaler Widerstand“ geriert, zuzuordnen sind. „Warum räumt ihr die Blockade der Linken nicht?“, ruft einer. „Widerstand! Widerstand!“, schallt es im Chor. Sie wollen nicht abziehen. Schließlich kommt es zu Gerangel mit der Polizei und Flaschenwürfen auf Beamte. Einige Journalisten werden attackiert. Die Bilder und Videos laufen wenige Minuten später über die Nachrichtenticker. Die Szenen von vor einer Woche wiederholen sich aber nicht. Die Polizei zählt am Ende neun Verletzte und ermittelt in 25 Straftaten.

Kurze Zeit später gibt die Stadt bekannt, an der Kundgebung von AfD, Pegida und Pro Chemnitz hätten 4.500 Personen teilgenommen, an der „Herz statt Hetze“-Demonstration 4.000. Die Polizei zählte dagegen 8.000 beziehungsweise 3.500 Teilnehmer, was den Angaben der AfD entspricht. Die Stadtverwaltung beharrt auf JF-Nachfrage später dennoch auf ihren Zahlen. In Chemnitz, scheint es, geht es vor allem auch um die Bilder: Wer war mehr? Wer hat sich durchgesetzt? Zwei Tage nach den Demonstrationen findet ein Gratis-Konzert „gegen rechte Hetze“ statt. Es kommen mehr als 50.000 Besucher. Die Stadt bereitet sich auf weitere Kundgebungen vor. Der Druck ist noch nicht raus.

Foto: Die Toten mahnen: AfD-Demonstranten am Samstag in Chemnitz tragen Porträts und Namen der Mordopfer von Flüchtlingen und Islamisten