© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Schwierige Balance zwischen West und Ost
Armenien: Nach der Samtenen Revolution steht die neue Staatsführung vor einer Herkulesaufgabe
Marc Zoellner

Kaum waren die ersten Schüsse verklungen, brach Panik aus in der gleichnamigen Kleinstadt Panik im äußersten Nordwesten Armeniens: Schwer gepanzerte Fahrzeuge rollten in die Gemeinde, Soldaten errichteten Straßensperren und gingen zum Häuserkampf über. Erst im Verlauf der Gefechte klärte sich die Lage. Die russischen Soldaten der 102. Division, die im benachbarten Gjumri einen Auslandsstützpunkt auf armenischem Boden betreiben, hatten schlicht vergessen, die Behörden von ihrer Übung zu informieren. Von einem Skandal sprach der armenische Präsident Nikol Paschinjan. „Ich sehe diesen Vorfall als Provokation, der auf die armenisch-russischen Beziehungen zielt“, erklärte Paschinjan nur einen Tag später.

Neuer Premier beschwört Partnerschaft mit Moskau

Fast anderthalb Monate her ist der Vorfall. Doch immer noch bestimmt die „Moskauer Drohgebärde“, wie armenische Zeitungen kommentierten, die außenpolitische Debatte der neu formierten Parteienlandschaft der Kaukasusrepublik nach ihrer „Samtenen Revolution“ vom April 2018. Damals gelang es einem breit angelegten Bündnis aus Liberalen und Sozialisten, den seit 2008 als Premierminister fungierenden Sersch Sargsjan während einer sieben Tage andauernden Massendemonstration gegen Sargsjans widerrechtliche dritte Amtszeit friedlich abzusetzen. Sargsjan sowie seine nationalkonservative Republikanische Partei Armeniens (HHK), welche seit Juni 1999 die Regierung stellte, galten in weiten Teilen der Bevölkerung als Inbegriff der grassierenden Korruption. 

Der liberale Paschinjan, der die Samtene Revolution damals initiiert und sich im Anschluß während zweier Wahlgänge zum neuen Premier ernennen lassen hatte, übt nun den Spagat zwischen den Großmächten. „Ich plane, Moskau in naher Zukunft zu bereisen, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum dritten Mal zu treffen“, verkündete er dieses Wochenende auf Facebook. „Ich möchte nicht behaupten, daß es zu sämtlichen Angelegenheiten auch Lösungen geben wird, aber ich möchte mit Sicherheit hervorheben, daß unsere Beziehungen normal weitergehen.“

Schwer dürfte Paschinjan die Reise ohnehin fallen: Noch Ende Juli, just nach der Panik-Affäre, betitelten gleich mehrere namhafte Moskauer Nachrichtenportale den 43jährigen ehemaligen Journalisten als „Abklatsch“ des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko; ebenso die Samtene Revolution als „Kopie“ des Euromaidan, des Auslösers der Ukraine-Krise. Daß Paschinjan tatsächlich eine engere Anbindung Armeniens an den Westen sucht, wie beispielsweise im August während seiner Visite im Brüsseler Nato-Hauptquartier, gereicht ihm dabei nicht zum Vorteil. Immerhin ist Armenien, anders als die Ukraine, auch Mitglied sowohl der von Rußland dominierten „Eurasischen Wirtschaftsunion“ (EAWU) als auch des Verteidigungsbündnisses der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS). 

Dabei geht es der neuen Regierung, wie Paschinjan, der sich selbst als „Armenozentristen“ definiert, stets betont, nicht einmal um eine Einbindung Armeniens in das transatlantische Verteidigungsbündnis, sondern primär um westliche Wirtschaftsbeihilfen sowie erleichterte Einreisebedingungen armenischer Bürger nach Europa. Den Grundstein hierzu hatte bereits sein Vorgänger im Amt, Sargsjan, gelegt und mit der EU seit Anfang des Jahrzehnts über eine umfassende Freihandelszone verhandelt. Aus dem multilateralen „Comprehensive and Enhanced Partnership Agreement“ (CEPA) zog Sargsjan sich jedoch 2013 – sehr zur Überraschung seiner europäischen Verhandlungspartner – zurück, um Armenien zwei Jahre später in die EAWU einzugliedern. 

Im Gegensatz zur Freihandelszone blieben allerdings die von der EU finanziell geförderten institutionellen Reformen: Die Umwandlung Armeniens von der Präsidial- zur parlamentarischen Demokratie; die Implementierung wirtschaftsethischer Standards; die Liberalisierung des armenischen Binnenmarkts und insbesondere der Energieversorgung. Seit Anfang Juni dieses Jahres wird der verbliebene politische Rumpf des CEPA-Abkommens von der Regierung Paschinjans schrittweise umgesetzt. Sehr zur Freude der EU, die sich davon auch einen wirtschaftlichen Aufschwung des von Arbeitslosigkeit und Abwanderung geprägten Landes erhofft.

Erfolge auf diesem Gebiet muß Paschinjan rasch vorweisen. Spätestens im Mai nächsten Jahres, hatte er versprochen, sollen die Armenier sich ein neues Parlament geben. Und auch wenn Paschinjans Popularität nach der Samtenen Revolution nur gewachsen ist – gut drei Viertel der armenischen Bürger hatten dem Premier in letzten Umfragen ihr Vertrauen ausgesprochen –, so ist doch die Koalition seiner Unterstützer mehr wacklig denn solide gebaut.

Bürgermeisterwahl als erste Bewährungsprobe 

Paschinjans bunt zusammengewürfelte Regierungskoalition hält gerade einmal 47 der 105 Sitze der armenischen Nationalversammlung; die HHK hingegen noch immer 50 Sitze. Acht Unabhängige bilden derzeit das Zünglein an der Waage zugunsten Paschinjans.

Bereits am 23. September muß sich Paschinjan überdies seiner ersten Bewährungsprobe stellen: Eriwan wählt dann einen neuen Stadtrat samt Bürgermeister. Neben seinem eigenen Wunschkandidaten, dem Schauspieler Hayk Marutyan, treten zu dieser Wahl erstmalig auch Paschinjans größte Koalitionspartner als eigenständige Akteure an; allen voran die einflußreiche Parlamentsabgeordnete Naira Zohrabyan auf der Liste „Blühendes Armenien“ des Oligarchen Gagik Zarukjan. In der Nationalversammlung ist diese mit 31 Sitzen vertreten – der „Civil Contract“ des Premiers hält gerade einmal fünf Mandate.

 Einzig zum Glück für Paschinjan hat sich die HHK aus dem Rennen um die Abgeordnetenversammlung der Hauptstadt zurückgezogen: Die angeschlagenen Nationalkonservativen suchen immer noch eine neue Führung.