© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Erholt, aber nicht ausgestanden
Weltfinanzkrise: Vor zehn Jahren mußte die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmelden / Weltweite Schulden steigen wieder
Elliot Neaman

Zehn Jahre sind vergangen, seit die US-Investmentbank Lehman Brothers am 10. September zunächst einen Verlust von 3,9 Milliarden Dollar vermeldete und fünf Tage später Insolvenz anmelden mußte – die zweite große Finanz- und Weltwirtschaftskrise (die erste begann 1929) nahm danach ihren Lauf. Im September 2007 erreichte der Dow-Jones-Index einen Höchststand von fast 17.000 Punkten, nur knapp unter dem Wert vom November 1999, der dem Platzen der New-Economy-Blase vom März 2000 vorausging. Im Februar 2009 erreichte der Dow sein Tief von 8.390.

Inzwischen stehen sowohl der Dow als auch der Technologie-Index Nasdaq wieder dreimal so hoch. Bedeutet das, daß der nächste Crash kurz bevorsteht? Und haben Wirtschaft, Politik und die Anleger daraus irgend etwas gelernt? Leider sind selbst Finanzexperten keine Propheten – wer die Zukunft der Märkte voraussehen könnte, würde mit einem Cocktail in der Hand an einem tropischen Strand sitzen statt schwitzend im Büro. Den nächsten Crash vorauszusehen, so wird behauptet, käme in etwa dem Versuch gleich, von den Ursachen des letzten Weltkriegs auf den Ausbruch des nächsten schließen zu wollen.

Überschuldung in der Finanzwirtschaft

Die Technologie-Blase von 1999 wurde durch extrem überhöhte Bewertungen von Startup-Unternehmen ausgelöst, die in vielen Fällen kaum Gewinne erwirtschafteten und deren Aussichten auf zukünftige Gewinne gleich null waren. Hauptursache der weltweiten Rezession ab 2008 waren die von US-Banken gewährten Immobilienkredite (Subprime-Hypotheken), die zunächst auf die Versicherungsmärkte übergriffen und dann zu einer weltweiten Bankenkrise führten. Viele Experten gehen davon aus, daß die unhaltbare Überschuldung in der Finanzwirtschaft auch bei der nächsten Krise eine tragende Rolle spielen wird.

Der Finanzanalyst William D. Cohan, der 2010 unter dem Titel „House of Cards“ ein wichtiges Buch über den Kollaps der altehrwürdigen Investment-Bank Bear Stearns – der heute als frühes Warnsignal interpretiert wird, das die dräuende Katastrophe ankündigte – veröffentlichte, weist darauf hin, daß die Verschuldung allein im Markt für Inlandsanleihen mit 41 Billionen US-Dollar eine gefährliche Höhe erreicht hat. In der Hoffnung auf hohe Renditen gehen Großanleger wie Anlage-, Renten- und Hedgefonds bzw. Stiftungsfonds der Universitäten und Wohltätigkeitsorganisationen immer größere Risiken ein.

Nach Cohans Einschätzung wird aktuell – genau wie 2008 – die Bonität von Unternehmensanleihen zu hoch eingestuft. Bei einem Zahlungsausfall risikoträchtiger Anleihen besteht die Gefahr einer Kettenreaktion, die ein Schrumpfen der Kreditvergabe und damit eine weitere schwere Rezession auslösen würde. Auch die Praxis des Tranchierens riskanterer Anleihen, um sie in Form von strukturierten Finanzinstrumenten an der Wall Street zu handeln (ABS, CDS & Co.), feiert nicht nur in den USA fröhliche Urständ – ein weiteres Anzeichen dafür, daß wir die Lehren der Vergangenheit schon wieder vergessen oder nie gelernt haben. Weltweit begeben sich immer mehr Investment-Banken in diese gefährlichen Gewässer und drohen die Fehler von vor zehn Jahren zu wiederholen.

Es gibt weitere Hiobsbotschaften: Laut Zahlen der New Yorker Fed kletterte die Verschuldung der US-Privathaushalte im zweiten Quartal 2018 auf 13,3 Billionen Dollar. China hat durch massive Unternehmenskredite seine Wirtschaft wieder in Schwung gebracht. Entsprechend machen chinesische Inlandskredite in den vergangenen zehn Jahren die Hälfte der globalen Überschuldung aus. Die aktuelle Türkei-Krise wurde im wesentlichen durch die Aufnahme von Staatsschulden zur Finanzierung von Großprojekten mit hohem Kapitalaufwand verursacht (JF 36/18). Nun besteht die Gefahr eines Übergreifens auf andere Schwellenmärkte, wie es 1997 in Asien der Fall war. Zusammengenommen ist das eine tickende Zeitbombe.

Die Lehman-Pleite war der größte Konkurs der US-Wirtschaftsgeschichte. Die Regierungen George W. Bush und Barack Obama sahen sich genötigt, milliardenschwere staatliche Rettungspakete für die Finanzbranche und Konzerne wie General Motors zu schnüren. Dennoch stieg die US-Arbeitslosenquote von 5,8 (2008) auf 9,6 Prozent (2010). Aktuell sind es nur noch 3,9 Prozent. Die Aufarbeitung der Ursachen und Folgen der Krise ab 2007/2008 hat gerade erst begonnen. Dazu muß man wissen, daß Ökonomen und Historiker über vierzig Jahre brauchten, um die Tragweite der Großen Depression nach 1929 einigermaßen abschätzen zu können.

Nach Überzeugung des Wirtschaftsnobelpreisträgers und ehemaligen Reagan-Beraters Milton Friedman hatte die Entscheidung der US-Notenbank, unmittelbar nach dem Wall-Street-Crash das verfügbare Kreditvolumen zu reduzieren, seinerzeit zur Verlängerung der Krise geführt. Knapp achtzig Jahre später reagierte der damalige US-Zentralbankchef Ben Bernanke mit einer drastischen Zinssenkung und Ausweitung der verfügbaren Geldmenge. Insgesamt übernahm die Fed faule Kredite in Höhe von vier Billionen US-Dollar. Nach Meinung vieler Ökonomen waren es diese Aktionen, die trotz ihrer immensen Kosten letztlich verhinderten, daß aus der Großen Rezession von 2008 eine zweite Große Depression à la 1929 wurde.

Europäische Mitschuld an der Weltfinanzkrise?

Der britische Historiker Adam Tooze, der nach einem Studium an der FU Berlin und der London School of Economics heute an der Columbia University in New York lehrt, hat Anfang August unter dem Titel „Crash: How a Decade of Financial Crises Changed the World“ eine scharfsinnige Analyse der Nachbeben der Krise von 2008 sowie ihrer Vorgeschichte seit den 1990er Jahren veröffentlicht. Die von vielen Europäern – etwa dem damaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) – vertretene These, der zufolge die Krise durch die laxe Haltung der Amerikaner gegenüber der Regulierung des Finanzsektors verschuldet wurde, hält Tooze für Unsinn und weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß ein Drittel der riskantesten hypotheken-gestützten Wertpapiere im Vorfeld der Krise von europäischen Banken ausgegeben wurden.

Zwei Drittel aller 2007 an der Börse gehandelten Wertpapiere, die letztlich als faule Kredite abgeschrieben werden mußten, stammten aus Europa. Auch der Immobilienboom sei im Zeitraum von 2001 bis 2006 in Europa weitaus intensiver gewesen als in den USA – und der Abschwung entsprechend dramatischer. Steinbrücks späterer Staatssekretär Jörg Asmussen (SPD) warb noch 2006 in der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen ausdrücklich für die Förderung des deutschen Verbriefungsmarktes – sprich: Schrottpapiere „Made in Germany“.

Tooze interpretiert sowohl den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa als auch Donald Trumps Wahlsieg in den USA als Langzeitfolgen des Zusammenbruchs der Finanzmärkte vor zehn Jahren. Viele der Faktoren hinter den politischen Erdbeben, die wir aktuell erleben – stagniernende Reallöhne und Gehälter, wachsende Schere zwischen Arm und Reich, zunehmende Ressentiments gegen Migranten und globale Eliten –, hatten ihre Ursprünge bereits in den frühen 2000er Jahren.

Jedoch begünstigte die tiefe Rezession den Aufstieg von Polit-Strategen wie Steve Bannon, die es verstanden, den Unmut in der Bevölkerung als Motor für einen politischen Wandel auszunutzen. Dieser Zusammenhang läßt sich übrigens auch an einem Gegenbeispiel festmachen: Kanada, dessen Bankwesen auf einer vergleichsweise sehr viel solideren Grundlage ruht, zählt zu den wenigen westlichen Ländern, in denen der populistische Rechtsruck bislang ausblieb. Die große Frage bleibt offen: Was wird, wenn die tickende Schuldenbombe explodiert, bevor die durch die letzte Krise ausgelösten Probleme gelöst sind?






Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco.

Fed-Bericht zur privaten US-Verschuldung:  newyorkfed.org