© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Scharf gegen „Rechts“ abgrenzen
Kopfgeburt: Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht stellt ihre Sammlungsbewegung „Aufstehen“ vor
Thorsten Hinz

Die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ mit ihrer Galionsfigur Sahra Wagenknecht schürt seit Monaten große Erwartungen. Ob sie in Erfüllung gehen, ist auch nach der Pressekonferenz vom 4. September völlig offen. Es spricht mehr dagegen als dafür. Zunächst einmal, weil es sich um eine Kopfgeburt, um einen Aktionismus von oben statt um eine Graswurzelbewegung handelt. Wagenknecht verfügt zwar über Charisma, aber es ist von einer Art, die für respektvolle Distanz, nicht aber für integrative Nähe sorgt.

Direkter Auslöser für das Projekt waren die Wahlerfolge der AfD, welche die Linkspartei in den östlichen Bundesländern als Protest- und Heimatpartei abgelöst hat. Ein allgemeiner Beweggrund ist der Funktionsverlust der Parteiendemokratie und des Parlamentarismus insgesamt. Der Bundestag ist zum Akklamationsorgan für eine Politik verkommen, die als verwaltungsmäßiger Vollzug fremdbestimmter Direktiven erscheint. Wagenknecht und ihre Mitstreiter haben die Resonanz der Bewegung „Unbeugsames Frankreich“ des linken Volkstribunen Jean-Luc Mélenchon und von Podemos in Spanien registriert, die innner- und außerhalb der Parlamente Druck auf die Politik ausüben.

Die Sammlungsbewegung ist zudem Ausdruck von Machtkämpfen in der Linkspartei und im gesamten linken Spektrum. Wagenknecht geht auf volles Risiko. Sie will mit „Aufstehen“ ihre innerparteilichen Gegner überspielen, die kopflose SPD in eine soziale Volksfront einbinden und sie auf diesem Wege dominieren. Damit wäre auch die kalte Rache von Wagenknechts Lebenspartner, des im Zorn aus der SPD geschiedenen Oskar Lafontaine, vollendet. Befeuert werden die Überlegungen durch die ideologischen Gegensätze, die mit der sogenannten Flüchtlingskrise auf der Linken akut geworden sind.

Wagenknecht zieht die Konsequenz aus der Einsicht, daß der Humanitarismus ihrer Partei, der potentiell allen Menschen den Aufenthalt und Sozialleistungen in Deutschland zugesteht, den ideologischen Flankenschutz für das globalisierte Großkapital liefert, dessen Ziel die billige, grenzenlos verfügbare Arbeitsmonade und der kulturell nivellierte Fastfood-Konsument ist. Sie nennt es „das Zusammenspiel zwischen linker Moral und neoliberalen Interessen“.

Der Treuebruch der Linkspartei am Ost-Wähler schlägt seit dem Auftritt der AfD voll auf sie zurück. Ihre klassische Klientel kann mit der Denunzierung alles Deutschen und der Überhöhung des Fremden, des Migranten, überhaupt nichts anfangen. Zwar gehörte der Proletarische Internationalismus – die „Unterordnung der nationalen Interessen unter die internationalen Interessen der Arbeiterklasse“ (so das „Kleine Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie“, Ost-Berlin 1984) – zur offiziellen Staatsdoktrin der DDR, doch im Alltag war er bloß eine abstrakte Angelegenheit.

Für die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung einschließlich der SED-Mitglieder waren die Nationalkultur, das nationale Erbe, das Vaterland höchst ehrenwert und blieb die Nation identitätsstiftend. Das patriotische Element wurde nach 1990 von der Führung der SED-Nachfolgepartei PDS programmatisch zurückgedrängt, denunziert und eliminiert, um für die post- und antinational gesinnten Linken im Westen anschlußfähig zu werden.

Bereits im Wahlprogramm für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl im Dezember 1990 forderte sie die Durchsetzung der multikulturellen Gesellschaft, für die ihre Wählerschaft in der Ex-DDR sich nicht im entferntesten interessierte. Die Operation des begnadeten Machiavellisten Gregor Gysi war erfolgreich, aber der Erfolg erweist sich jetzt als zweischneidig. Die Westausdehnung hat den Einfluß von Abenteurern, Ideologen, Neurotikern und Borderlinern gestärkt, denen die in ihren Augen biedermeierliche Stammwählerschaft im Osten gleichgültig bis verächtlich ist.

Die Quittung kam mit Verzögerung, aber sie war deutlich. Bei der Bundestagswahl im September 2017 fiel die Linke in allen östlichen Flächenländern hinter die AfD zurück. In Thüringen, wo sie den Ministerpräsidenten stellt, brach ihr Stimmenanteil von 28 Prozent bei den Landtagswahlen 2014 auf 17 Prozent ein.

Den Ideologen in der Partei ist das egal, denn Dogmen bedürfen keiner Legitimation durch den Wähler. Der muß nötigenfalls zu seinem Glück gezwungen werden. Die Co-Vorsitzende Katja Kipping beispielsweise plädiert für ein Einwanderungsgesetz, das „offene Grenzen für alle“ ermöglicht. Entscheidendes Kriterium wäre, „daß die Menschen, die einen Antrag auf Einwanderung stellen, hier einen sozialen Ankerpunkt haben“.  Gemeint ist „nicht nur ein Trauschein oder ein Arbeitsvertrag, sondern viele Orte des gesellschaftlichen Engagements, zum Beispiel ein Fußballverein, ein Chor oder die Kirchengemeinde.“ Kippings Irrsinn fügt sich fugenlos in den globalistischen Mainstream ein und liest sich wie das Bewerbungsschreiben für Merkels Kabinettstisch. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow, der 2015 „Refugees“ auf arabisch begrüßte und nun um sein Amt fürchtet, will zumindest den „Heimat“-Begriff von links besetzen und den „Stolz der Ostdeutschen“ fördern. 

Wagenknecht hat begriffen, daß solch paternalistische Umarmungen angesichts einer staats-, volks- und heimatfeindliche Politik der Linkspartei nicht mehr verfangen. Sie thematisiert daher den Zusammenhang von sozialer Sicherheit und Grenzkontrollen. Ob soziale Verantwortung, Realitätssinn, politisches Kalkül, Wille zur Macht oder ästhetischer Degout für sie handlungsleitend ist, sei dahingestellt. Jedenfalls hat sie neben Ludwig Erhard auch Goethe, Klopstock und Thomas Mann gelesen, kennt sie sich bei US-Globalstrategen wie Thomas Barnett und Zbigniew Brzezinski ebenso aus wie bei Colin Crouch und Chantal Mouffe, den Analytikern der Postdemokratie. Und zweifellos hat sie in aller Heimlichkeit auch Rolf Peter Sieferles „Migrationsproblem“ aufmerksam studiert.

Sie spricht sich „für ein geeintes Europa souveräner sozialer Demokratien“ aus und attestiert der EU-Kommission, „im demokratiefreien Raum“ zu agieren. Die industriellen Schlüsselbranchen dürften nicht den internationalen Hedgefonds überlassen werden „wie gerade bei Thyssen-Krupp“. Das zielt auch auf die SPD, die unter Gerhard Schröder und seinem Finanzminister Hans Eichel die Deutschland-AG für die angelsächsischen „Heuschrecken“ aufgebrochen hat. Die Vereinigten Staaten hätten „mit ihren Rohstoffkriegen den Nahen Osten destabilisiert (...). Die Konsequenzen treffen vor allem Europa. Wir sollten uns nicht einer Politik unterordnen, die unseren Interessen widerspricht.“ Sie wünscht sich „eine gute Zusammenarbeit mit Rußland. Die Vereinigten Staaten hatten immer Angst davor, daß russische Rohstoffe und deutsche Technologie zusammenkommen, aus gutem Grund“.

Eingeklemmt zwischen der AfD und Wagenknechts Sammlungsbewegung, sitzt der SPD die Existenzangst im Nacken. Die SPD-Linke will sich daraus mit einem weiteren Linksruck befreien, das heißt, die bisherige Politik soll mit noch mehr Steuergeld fortgesetzt werden.

Doch gibt es auch nachdenkliche Stimmen. Michael Bröning, der das Referat Internationale Politikanalyse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung leitet, geht in seinem Buch „Lob der Nation“ (2018) davon aus, daß der Abbau nationalstaatlicher Kompetenzen fast immer mit Entsolidarisierung einhergeht. Europäische Regierungen wählten gern den Weg über Brüssel, um mittels EU-Verordnungen durchzusetzen, was ihnen die gewählten Parlamente zu Hause verweigern. Bröning sieht in den europäischen Nationalstaaten das Fundament, auf dem die Europäische Union sich zu einer Konföderation, statt zu einem Superstaat, weiterentwickeln kann. Der Untertitel des Buches lautet: „Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen“. Bröning räumt also ein, daß die AfD zum hauptsächlichen Beweger der Politik geworden ist.

Bisher ist die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ in den Medien überwiegend freundlich behandelt worden, offenbar weil man hofft, daß sie der AfD das Wasser abgräbt und die kritischen Energien in das seichte Flußdelta der Unverbindlichkeit zurückführt. Nur ist Wagenknechts Ehrgeiz auf eine verbindliche linke Alternative gerichtet. Um sie kommunizieren zu können, muß sie sich scharf gegen „Rechts“ abgrenzen. Das klingt dann so: „Im Gegensatz zur AfD sind für uns die sozialen Fragen entscheidend.“ 

Doch die soziale Frage ruft heute nach politischen Entscheidungen, die jenseits des politischen Horizonts der Linken liegen. An diesem Punkt werden sich schon bald Konflikte entzünden. Das gilt nach innen wie außen. Wie will Wagenknecht reagieren, wenn Podemos und Mélenchon im Namen internationalistischer Solidarität die Vergemeinschaftung der Staatsschulden fordern? Am Ende könnte sich als ungewollter Hauptzweck der Sammlungsbewegung zweierlei herausstellen: Erstens belegt sie in den Augen unentschiedener Bürger die Plausibilität rechter Positionen. Zweitens führt sie vor, daß für deren Durchsetzung linke Bewegungen ungeeignet sind.

Weitere Informationen zur Sammlungsbewegung im Internet unter  www.aufstehen.de

 Politikbeitrag Seite 6