© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Der Weg zum Technokratenregime
Eine Debatte über den Einfluß ordoliberaler Ideen in der Europäischen Union
Dirk Glaser

Über einen Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit kann sich die Europäische Zentralbank (EZB) unter der Führung des einstigen Goldman-Sachs-Bankers Mario Draghi nicht beklagen. Seit bald zehn Jahren produziert sie unablässig Schlagzeilen, kritische Kommentare und apokalyptisch getönte Warnungen, die Draghis südländisch „lockere“ Geldpolitik zur Schicksalsfrage der Europäischen Union erheben.

Medial weitaus weniger beachtet, da zumeist leise, sachlich und rational geführt, aber ebenfalls im Bewußtsein, über ein nicht mehr unmögliches Scheitern des Brüsseler „Projekts Europa“ zu debattieren, wiederholt sich der in der großen politischen Arena ausgefochtene Streit über den richtigen EZB-Kurs seit langem in überschaubaren akademischen Kreisen.

Im Konzert der linken Kritik an einer Austeritätspolitik 

So setzt der Frankfurter Politologe Thomas Biebricher jetzt in der Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft (Leviathan, 2/2018) eine Kontroverse darüber fort, ob EZB und EU-Kommission nicht etwa einer, wie der linke Standardvorwurf lautet, neoliberalen, sondern einer ordoliberalen Agenda folgen. Diese Stigmatisierung hat im Zuge der Kritik an der bundesdeutschen, angeblich ihr „Spardiktat“ den EU-Staaten des Mittelmeerraums aufdrückenden „Austeritätspolitik“ enorm an Beliebtheit gewonnen, zumal sich der bis 2017 amtierende Finanzminister Wolfgang Schäuble zumindest seinem puritanisch-protestantischen Habitus nach nicht nur während des endlosen Theaters um die „Rettung Griechenlands“ als Wiedergänger Ludwig Erhards, als ideale Verkörperung ordoliberalen „Maßhaltens“ präsentierte.  

Mit solchen Reminiszenzen an die fünfziger Jahre, an die „restaurative Adenauer-Ära“, und allemal mit den negativen Konnotationen von „Ordo“ und „Ordnung“ läßt sich kinderleicht Stimmung machen. So benutzt die beinahe fanatische „Postnationalistin“ Ulrike Guérot den polemischen Begriff „Ordoliberalismus“ gern, um die aus ihrer Sicht immer noch zu nationalstaatlich- deutschen und zugleich noch allzu festen supranationalen EU-Strukturen als Hindernisse auf dem Weg ins grenzenlose One-World-Europa als Siedlungsgebiet für jedermann zu attackieren.

Gegen die Agitation à la Guérot haben in Leviathan (4/2017) der Wirtschaftsrechtler Christian Joerges (Bremen) und der Politologe Josef Hien (Mailand) darauf gedrungen, den Begriff aus der Diskussion zu entfernen, weil es keine empirischen Belege für die „Ordoliberalisierung“ Europas als Programm der Restrukturierung der Euro-zone gebe. Dafür fehle es den wie ein „Flickenteppich“ anmutenden Mechanismen der Krisenpolitik von EU-Kommission und EZB schon an rechtlicher Stringenz. 

Joerges und Hien räumen allerdings ein, daß das austeritätsorientierte Krisenmanagement unter Schäubles Federführung nicht aufgrund seiner wirtschaftspolitischen Inhalte, aber doch in seiner protestantisch geprägten weltanschaulichen „Tiefenstruktur“ dem Ordoliberalismus als ideologisches Dekor zuzuordnen sei, zumal deren Protagonisten, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Walter Eucken und seine „Freiburger Schule“, den Kirchen eine tragende Rolle in der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit zugedacht hatten.

Bei diesen christlich-weltanschaulichen Dispositionen ordoliberaler Theoretiker setzt Biebricher, ein Experte für den Neoliberalismus, ein, um vor einem allzu raschen Abschied von einem Begriff zu warnen, dessen zeitdiagnostisches Potential noch nicht ausgeschöpft sei. Jedenfalls sollte man die Wirkmächtigkeit dieser scheinbar historischen Wirtschaftstheorie nicht unterschätzen. 

Zwar sei der Nachweis, daß es auch heute noch zur Transmission ordoliberaler Vorstellungen in die politische Praxis komme, schwer zu führen. Aber empirische Untersuchungen legten nahe, daß das ordoliberale Erbe „im einen oder anderen Bundesministerium oder bei der Bundesbank weitaus wirkmächtiger“ sei, als es deren randständiger Status im akademischen Kontext vermuten lasse. Und überdies weise die Eurozone eine verblüffende Ähnlichkeit mit jenen politökonomischen Arrangements auf, die in der Freiburger Schule für erstrebenswert galten. 

Gegen „selbstdestruktive“ Tendenz in der Demokratie  

Als Antwort auf den „manchesterlichen“ Laissez-faire-Liberalismus hatte die deutsche Wirtschaftstheorie bereits in der Zwischenkriegszeit ein Konzept entwickelt, das nach 1945 als „rheinischer Kapitalismus“ reüssierte. Dessen Kerngedanke beruht auf der Annahme, daß Märkte nicht dem „freien Spiel“ der Kräfte überlassen werden können, sondern marktvermittelter Wettbewerb institutioneller Ordnung bedürfe, die Monopolbildungen genauso wie staatliche Interventionen zu verhindern habe. Zum Vorverständnis dieses Konzepts rechnet Biebricher zutreffend die „demokratiekritische Grundausrichtung“ von Denkern wie Eucken und Röpke, die sie, beeinflußt von kulturpessimistischen Werken wie Ortega y Gassets „Aufstand der Massen“, am Funktionieren einer demokratisch regierten Marktwirtschaft zweifeln ließ. Denn Menschen, so glaubte der Realist Eucken, tendieren als irrationale Masse dazu, die für sie unabdingbaren Ordnungen zu zerstören. Dieser selbstdestruktiven Tendenz leiste gerade die pluralistische Demokratie Vorschub, wo sich unter Mißachtung des Gemeinwohls Parteien den Staat zur Beute machen und seine Desintegration vorantreiben. 

Die ordoliberale Schule wolle daher tendenziell staatliche Willensbildung gegen gesellschaftliche Einflußnahme abschirmen. Der einheitliche staatliche Wille solle nicht „zum Spielball der Volatilitäten demokratischer Politik“ werden. Nur so könne er dem ordoliberalen Ideal einer kohärenten Wettbewerbspolitik genügen. Wobei die Politik wirtschaftswissenschaftlicher Expertise gehorchen müsse. Anstelle „unvernünftiger“ Partikularinteressen, die in der Massendemokratie eine dem Gemeinwohl dienende Wirtschaftspolitik untergraben, tritt die Autorität der Wissenschaft. Sie liefere den Entscheidungsträgern des starken Staates rational generiertes Wissen zur Durchsetzung einer Wirtschaftsverfassung, die endlich das Allgemeinwohl realisiert.   

Diese Konzeption zeigt für Biebricher nicht nur eine bedenkliche Nähe zum autoritären Staatskonzept eines Carl Schmitt. Er entdeckt derart ordoliberales Ideengut nun auch in der „elitischen Technokratie“ des „Eurozonen-Regimes“, die sich gegen demokratische Kontrolle abschotte – wenn auch eher mit neoliberalen, freilich genauso antidemokratischen Intentionen. Sicher seien EU-Kommission und EZB derzeit kein Äquivalent des starken Staates. Aber eine autoritäre und damit ordoliberale Tendenz sei – als „work in progress“ – unübersehbar. Sie könnte sich verstärken, wenn Bundesbankchef Jens Weidmann, als möglicher Draghi-Nachfolger, dem Idealtyp des Technokratenregimes mit der Etablierung einer „politisch unabhängigen Haushaltsüberwachung“ näher käme.