© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/18 / 07. September 2018

Die geistige Aufkündigung der Solidarität
Am Ende des Ersten Weltkrieges ersetzte ein Selbstekel bei vielen deutschen Schriftstellern die vorherige Begeisterung des August 1914
Günter Scholdt

Der deutsche Zusammenbruch 1918 entfesselte umgehend eine von Schriftstellern maßgeblich mitgetragene Deutungsschlacht über den Krieg und die darin verstrickten Teilnehmer. Dabei wurde in Weimar fast jede (literarische) Erinnerung an die gut vierjährige Schreckenszeit tagespolitisch instrumentalisiert. Man plädierte dadurch für oder gegen die Revolution, Demokratie, Republik, den Kommunismus oder Elitensturz. Vergleichbares vollzog sich, um Dimensionen erweitert, ab 1945 als Vergangenheitsbewältigung zweiter Teil. Beidesmal proklamierte die Schriftsteller-Mehrheit ein striktes „Nie wieder!“, betrieb Ursachenforschung der Katastrophe als Systemkritik und unterzog die geschlagene politische Klasse einer Mohrenwäsche, die sich zur Deutschen-Schelte erweiterte. 

1945 mündeten solche Vorstellungen, von dem Völkermord an den Juden zusätzlich beschwert, in die Kollektivschuldthese. Die Anfänge des heutigen nationalmasochistischen Grundgefühls reichen jedoch schon ein Jahrhundert zurück. Auch 1918 verkam die zweifellos gebotene Diskussion darüber, wie sich Völker in wilder Enthumanisierung in ein monströses Schlachthaus begeben konnten, oft zu einer bigotten, außengesteuerten und von Kreuzzugspropaganda stimulierten Sieger-Veranstaltung. Indem Schwarmkosmopoliten alliierte Interessenpolitik mit innenpolitischer Befreiung gleichsetzten, demonstrierten sie abseits von echter Besinnung etwas bis heute Typisches: einen auffallenden deutschen Mangel an politischem Realismus. 

Der Niederlage folgte die Verklärung der Sieger

Denn kaum ein Kritiker des vermeintlich mißratenen deutschen Charakters bedachte, daß primär weder Moral- noch Systemfragen, politische Fehler oder (kriminelle) militärische Übergriffe die Entente zum Krieg oder seiner Nichtbeendigung motiviert hatten. Vielmehr dominierte schlicht das Kalkül, eine aufkommende Weltmacht zu verhindern. Auch heute dienen bestimmte Formen alliierter „Zivilisierung“ und Implantierung universalistischer Werte fremder Machtpolitik, wird uns Geopolitik als „Befreiung“ und Interessenpolitik per Menschenrechtshebel verkauft. 

Auffällig waren auch Desolidarisierungen in der Stunde größter Not, verbunden mit pharisäischer Vergeßlichkeit gegenüber eigenen früheren Einlassungen. Kurt Tucholsky, Weimars wohl profiliertester Linkspublizist, bekannte etwa am 9. Januar 1919 in der Weltbühne: „Es wird mir vorgeworfen, ich schmähte mein eignes Land. Das ist nicht mein Land. Das ist nicht unser Deutschland, in dem diese Köpfe, diese Hirne herrschen durften.“ Auch andere Prominente, Sozialgruppen, Politzirkel, Ideologien oder Ethnien fühlten sich Deutschland nur mehr insoweit verpflichtet, als sie Chancen sahen, ihre jeweiligen politischen Konzeptionen zu realisieren.

Sozialistische oder anarchistische Revolutionäre machten daraus gar keinen Hehl, exemplarisch Ludwig Turek, Adam Scharrer oder Theodor Plievier. Der enthüllte zustimmend, welche Tricks Soldaten anwandten, um etwa durch Infizierung mit Geschlechtskrankheiten den Kämpfen zu entgehen oder gar durch Sabotage die Gefechtsfähigkeit eines Schiffes zu verhindern. Tucholsky sekundierte im Statement vom 30. März 1926, für einen „anständigen Menschen“ gebe es nur einen erstzunehmenden Vorwurf, nicht den Heeresdienst verweigert zu haben. Er selbst habe sich „dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte“. Den „Sachwaltern des falschen Kollektivwahns“ antworte er: „Wir erkennen die Pflichten nicht an, die Ihr uns auflegt“, und weiter „Patriotismus, der Kampf für diesen Staat gehören nicht dazu.“ Ein ernsthaftes Ideal verfechte höchstens die Rote Armee.

Ob solche Aussagen die Dolchstoßlegende plausibel bekämpften? Auf eine Million schätzt man die Zahl derer, die sich bei Kriegsende der Wehrpflicht entzogen. Und das war ideeller Sprengstoff. Denn einen innenpolitischen Kampf auszufechten, während wehrhafte Patrioten alles aufboten, einem Karthago-Frieden à la Versailles zu entgehen, erschien vielen als Höchstmaß an Illoyalität. Die Retourkutsche blieb so nicht aus: ein rasender Affekt gegen die neue Staatsform und ihren so gedeuteten zumindest geistigen Hochverrat. 

Bereits damals zeigte sich eine latente Bereitschaft deutscher Kultureliten, sich geistig in die Arme anderer Globalmächte zu flüchten. Europa- oder Wilson-Enthusiasten präsentierten den durch Versailles und Rheinland-Besetzung Geprügelten ein verzuckertes Bild der Alliierten, schwärmten für französische Lebens- und Politikkultur oder imitierten den großstädtisch-neusachlichen Lebensstil des Amerikanismus. 

Hinzu kamen zahlreiche Moskau-Pilger oder Zionisten, die seit der Balfour-Erklärung Deutschland nicht mehr als ersten Orientierungsort betrachteten. Einer Hypersolidarisierung Hunderter von Autoren im August 1914 folgte 1918 (nach Wendehals-Manier) vielfach eine kaum noch getarnte Aufkündigung der Solidarität. Und das Ganze geschah (zum Beispiel in der Weltbühne) im Kontext von Verklärungen des US-Präsidenten Wilson, dessen idealistische Skrupel stets dann verstummten, wenn US-amerikanische Großmacht- und Geschäftsinteressen berührt waren. Und dessen erlaubte gigantische Waffenlieferungen an die Entente noch vor Kriegs-eintritt samt Soft-Power-Rhetorik ihren wesentlichen Teil zur Niederringung Deutschlands geleistet hatten. 

Thomas Mann klassifizierte den „Zivilisationsliteraten“

Insofern vereinfacht die heute verbreitete Ansicht zu sehr, in der Weimarer Kontroverse hätten sich im Kern weltbürgerlich-pazifistische Lichtbringer mit testosterongeschwängerten Finsterlingen gestritten. Selbst wer die damalige Revanchismus-Gefahr ernst nimmt, sollte den Streit nicht moralisch versimpeln. Es ging nämlich höchst selten um die schlichte Alternative Krieg oder Frieden, sondern meist um Detailprobleme eines tragischen Konflikts, der in Richard Dehmels Kriegstagebuch bereits im Titel von 1919 benannt war: „Zwischen Volk und Menschheit“: „Was hilft uns der Tugendmantel der Menschheit“, folgerte er, „solange er unser Volk nicht schützt.“ Daher habe er sich freiwillig gemeldet, als Zeichen gegen allerlei Intellektuelle, deren „blindwütige Friedensapostelei unsere Wehrkraft schlimm geschwächt“ hat. Er teile „ihre humane Kritik an unserer herrschenden Kaste“, aber die Gegner seien keineswegs besser und selbst dortige Friedensfreunde wie Barbusse wünschten Deutschlands Vernichtung. Ähnliche Beobachtungen provozierten Thomas Mann zu seinem Großessay „Betrachtungen eines Unpolitischen“. 

Er erschien Ende 1918, fast zeitgleich als Korrektiv zu Heinrich Manns „Der Untertan“, dessen Titel bereits die These der deutschen Misere enthält. Dagegen setzte Thomas Manns Kampfschrift den bis heute repräsentativen Sozialtyp des „Zivilisationsliteraten“, der mit „Leib und Seele“ zum „Imperium der Zivilisation“ gehöre. Er stehe nicht über dem Getümmel wie der „sanfte Romain Rolland“, sondern mittendrin auf der feindlichen Seite. Er sei keineswegs undeutsch. Könne man doch „höchst deutsch sein und dabei höchst antideutsch“. Das Deutsche sei ein „Abgrund“ und der Zivilisationsliterat nur ein erstaunliches „Beispiel dafür, wie weit der Deutsche es in Selbstekel und Einfremdung, in kosmopolitischer Hingebung und Selbstent-äußerung“ bringen könne. 

Thomas Mann hatte an seinem Bruder Heinrich Maß genommen, der sich bereits im Zola-Essay von 1915 geoutet hatte. Empfahl er seinen Landsleuten – in einer leicht zu entschlüsselnden Parallele zum Sturz Napoleons III. – doch die Niederlage, die uns mit der Demokratie „beschenke“. Der Mainstream hat sich angewöhnt, Thomas Manns Schrift als verbohrte, später korrigierte Verirrung zu klassifizieren. Doch sie bekämpfte gewiß keinen bloßen Popanz, wie ein exemplarischer Blick auf die Schweiz erweist, wo sich eine dem Krieg entflohene Politbohème konzentrierte. 

Echte, gewaltfeindliche Pazifisten wie Alfred Hermann Fried (Die Friedens-Warte) oder René Schickele (Die weißen Blätter) agierten dort neben nationalmasochistischen Revolutionären wie Ludwig Rubiner mit seinem Zeit-Echo oder Autoren der Entente-finanzierten Freien Zeitung. Genannt seien Hugo Ball, Edward Stilgebauer, Hermann Fernau, Richard Grelling („J’accuse“), Friedrich Wilhelm Foerster, Yvan und Claire Goll, Kurt Eisner und nicht zuletzt Ernst Bloch, der sich in einem Privatbrief sogar vorwarf, nicht als französischer Freiwilliger zu kämpfen. Daß er anfangs, wegen Kurzsichtigkeit untauglich, ebenso wie Hugo Ball auf deutscher Seite entflammt war, sei nur am Rande vermerkt. Sie alle einte die Überzeugung der besonderen Verworfenheit preußischer Militärdespotie, der Alleinschuld und barbarischen Kriegsführung Deutschlands, das im Sinne eines historischen Auftrags besiegt und zwangszivilisiert werden müsse. 

Kollektivschuldthesen und antipreußische Affekte

Im Cabaret Voltaire bot Ball zusammen mit Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Klabund oder Tristan Tzara Dada-Kunst als Kriegsprotest. Dieser politisch vagabundierende Schwarmgeist mit der schrillen Moraltrompete führte Deutschlands Kollektivschuld bereits damals bis auf Luther zurück („Zur Kritik der deutschen Intelligenz“). 1919 kollaborierte er wie der von ihm geschätzte bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner mit der französischen Besatzung, deren finanzielle Ansprüche ihm gerecht erschienen. Sein antiborussischer und antilutherischer Affekt ließ ihn zur Entmachtung Preußens eine Annexion deutscher Gebiete durch das katholische Wien ersinnen, bis ihm die alliierte Realpolitik solche geistigen Eskapaden austrieb.

Was ein Propaganda-Experte wie der Brite H. G. Wells, der während des Kriegs im Ministry of Information diente, über solche Anti-Kaiser-Germans dachte, verriet er 1918 in „My Fourth Year“: „Ich habe mein Vaterland bisweilen sehr bitter kritisiert, aber, mag es in der Vergangenheit recht oder unrecht getan haben, so will ich doch den Anblick nicht ertragen, daß es einer siegreichen fremden Nation zu Füßen liegt. Kein Deutscher, der überhaupt in Betracht kommt, kann anders denken.“ 

Das sieht man heute durchweg anders. Um so notwendiger scheint es, auch einmal den „reaktionären“ Standpunkt zu beleuchten. Und sei es, um nicht zu Lasten des Verständnisses den Bewußtseinshorizont jener Zeit retrospektiv zu verkürzen.






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Germanist und Historiker. Er ist Autor des Buches „Die große Autorenschlacht. Weimars Literaten streiten über den Ersten Weltkrieg“ (Schnellroda 2015)