© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

„Das könnte Desperados anziehen“
Verfassungsschutz II: Der Rechtswissenschaftler Dietrich Murswiek über Bedeutung und Folgen des „Beobachtens“
Christian Vollradt

Herr Professor Murswiek, aktuell steht zur Debatte, ob die AfD bzw. Teile von ihr vom Verfassungsschutz beobachtet werden soll(en). Wer darf solch eine Beobachtung anordnen – und auf welcher rechtlichen Basis?

Murswiek: Zuständig sind die Verfassungsschutzbehörden, also das Bundesamt beziehungsweise die Landesämter für Verfassungsschutz. Die Entscheidung wird vom Behördenleiter, also dem Verfassungsschutzpräsidenten, getroffen – in manchen Bundesländern im Einvernehmen mit dem Innenminister. Rechtliche Voraussetzung ist nach den Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder, daß es hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen gibt.

Die Jugendorganisation der Partei, die Junge Alternative, ist in Bremen und Niedersachsen zum „Beobachtungsobjekt“ der Verfassungsschützer geworden; in Thüringen wurde der AfD-Landesverband als „Prüffall“ eingestuft. Was bedeuten diese unterschiedlichen Begriffe in diesem Zusammenhang, was unterscheidet „beobachten“ und „prüfen“?

Murswiek: „Beobachtung“ bedeutet, daß die betreffende Organisation systematisch daraufhin überprüft wird, ob sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Vor der Entscheidung über die Beobachtung erfolgt eine Vorprüfung, bei der eruiert wird, ob genügend tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die eine Beobachtung rechtfertigen.

Ist „vom Verfassungsschutz beobachtet“ dann gleichbedeutend mit „radikal“ oder „extremistisch“ oder „verfassungsfeindlich“? 

Murswiek: Der Begriff „radikal“ ist verfassungsschutzrechtlich ohne Bedeutung. Es gibt auch radikale Demokraten oder Radikalliberale. Als „extremistisch“ oder „verfassungsfeindlich“ bezeichnet man Bestrebungen, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Wenn eine Organisation vom Verfassungsschutz beobachtet wird, bedeutet das zunächst noch nicht, daß sie verfassungsfeindlich ist, sondern nur, daß der Verfassungsschutz insoweit einen – auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten – Verdacht hat. Die Beobachtung soll die Erkenntnisse gewinnen, die ein Urteil darüber erlauben, ob der Verdacht berechtigt ist. Wenn der Verfassungsschutz zu der Überzeugung gelangt ist, daß eine Organisation verfassungsfeindlich ist, wird sie natürlich weiterhin beobachtet. Der Begriff der Beobachtung sagt also nichts darüber aus, ob die Organisation tatsächlich verfassungsfeindlich ist, oder ob es sich um einen Verdachtsfall handelt. In der öffentlichen Wahrnehmung wird „Beobachtung durch den Verfassungsschutz“ oft mit Einstufung als extremistisch gleichgesetzt. Das ist zwar falsch, aber für die betroffene Organisation kann es äußerst schädlich sein.

Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich aus einer Beobachtung; müssen zum Beispiel Beamte dann automatisch die Partei verlassen?

Murswiek: Die Beobachtung hat keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen für die Partei und für ihre Mitglieder. Insbesondere müssen Beamte nicht schon aufgrund der Beobachtung mit disziplinarischen Konsequenzen rechnen. Man muß sich aber bewußt sein, daß sich aus einer Beobachtung gravierende faktische Nachteile ergeben können. Wenn eine Partei beobachtet wird, muß damit gerechnet werden, daß der Verfassungsschutz die Partei in den Verfassungsschutzbericht aufnimmt und irgendwann sogar seine Überzeugung ausspricht, daß sie extremistisch sei. Viele Bürger, die erwägen, der Partei beizutreten oder ihr zu spenden, werden sich lieber fernhalten. Vorsichtige Mitglieder werden vielleicht austreten, während Desperados sich angezogen fühlen. Die Beobachtung könnte so zu einer Radikalisierung der Partei bei gleichzeitiger Verminderung ihrer Erfolgschancen führen.

Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz hat im Interview mit dieser Zeitung einmal bestätigt, daß der Verfassungsschutz durchaus als (partei-)politisches Instrument eingesetzt wird. Ist das Ihrer Meinung nach hier der Fall – und wenn ja, wie sollte die AfD darauf juristisch und politisch reagieren?

Murswiek: Wenn man die unqualifizierten Beobachtungsforderungen mancher Politiker liest, hat man den Eindruck, daß sie den Verfassungsschutz instrumentalisieren wollen. Es ist ja für Parteipolitiker eine naheliegende – allerdings demokratiefeindliche – Versuchung, den politischen Gegner aus dem Wettbewerb zu drängen, indem man ihn mit Hilfe des Verfassungsschutzes als extremistisch diskreditiert. Ich sehe aber bisher keinen Grund, den Verfassungsschutzbehörden im Hinblick auf die von Ihnen erwähnten Entscheidungen einen solchen Mißbrauchsvorwurf zu machen. Ohne Kenntnis der genauen Begründung läßt sich das gar nicht beurteilen.






Prof. Dr. Dietrich Murswiek lehrt Öffentliches Recht an der Universität Freiburg

 www.jura.uni-freiburg.de