© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Mit dem Feuer spielen
Syrien: Idlib, die letzte Hochburg vieler radikalislamistischer Dschihadisten, ruft die Mächte auf den Plan
Marc Zoellner

Reger Verkehr herrscht auf den Straßen von Idlib: Unablässig, dokumentieren die Aufnahmen des türkischen CNN-Journalisten Mete Sohtaoglu eindrucksvoll, bewegen sich derzeit ganze Kolonnen an Privatfahrzeugen Richtung Norden. Auf den Ladeflächen ihrer Pickups stapeln die Insassen, was sie für einen Neuanfang benötigen – in einer anderen Gegend der Provinz, in der Türkei, auch in Europa. Auf der Gegenspur fährt das türkische Militär schwere Waffen auf. Dahin, wo russische und syrische Luftstreitkräfte, unterstützt von Artilleriefeuer, seit Tagen frontnahe Dörfer bombardieren, um die Rebellen für einen Generalangriff zu schwächen.

Idlib befindet sich im Ausnahmezustand. Belagert von den Streitkräften der Syrisch-Arabischen Armee (SAA), den loyal verbliebenen Bodentruppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, sowie dessen russischen und iranischen Verbündeten, harren derzeit über drei Millionen Zivilisten des Beginns der drohenden Offensive. Gut die Hälfte stammt aus anderen Provinzen Syriens. Sie sind „Intern Vertriebene“, Kriegsflüchtlinge vor Assad und dem Islamischen Staat. Eine Rückkehr in die von Assad befriedeten Regionen ist für viele keine Option. „Die Zivilisten hier fürchten sich mehr vor den Gefängnissen des Regimes als davor, bombardiert zu werden“, berichtet der 53jährige Omar dem britischen Guardian. 

Tatsächlich besitzt nicht nur Assad, sondern auch Rußland ein evidentes Interesse an der Einnahme Idlibs: Denn neben den Zivilisten hält sich hier auch das Gros der verbliebenen Milizen vom Aufstand gegen die Damaszener Regierung auf – zwischen ihnen viele radikal-islamische Dschihadisten. 

Die Kontrolle über Idlib hält seit zwei Jahren unangefochten die Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS), der nominelle Nachfolger der al-Nusra-Front, die wiederum den syrischen Ableger der Terrorgruppe al-Qaida darstellt.

Ankara fürchtet erneute Ausreisewellen

Die Schätzungen über deren personelle Stärke klaffen weit auseinander. Von zwölftausend Kämpfern, wie das Washingtoner Middle East Institute reklamiert, bis hin zu über einhunderttausend Bewaffneten, wie die syrische Regierung behauptet.

In Reichweite der russischen Mittelmeerbasen haben auch Tausende ausländische Dschihadisten ihre Geschütze in Idlib positioniert: Darunter Hunderte tschetschenische Islamisten der Dschunud asch-Scham sowie der Ajnad al-Kavkaz, einer Abspaltung des „Kaukasus-Emirats“ des 2013 getöteten  Terrorführers Doku Umarow. 

Moskau ist gewillt, die Rückkehr dieser kriegserprobten Extremisten in den russischen Kaukasus zu verhindern. Ähnlich verhält es sich mit den Mitgliedern der Islamischen Turkestan-Partei (TIP), Radikalislamisten der chinesischen Minderheit der Uiguren, eines nach Unabhängigkeit strebenden Turkvolks aus dem Nordwesten Chinas, die nach der Vertreibung aus ihrer Heimat auch in Syrien kämpfen. Bis zu zehntausend Uiguren, berichtet der syrische Parlamentsabgeordnete Fares Shehabi, hielten sich noch in Idlib auf und hätten  gar in syrische Familien eingeheiratet.

Die Türkei als Verbündeter der Freien Syrischen Armee (FSA), deren moderater Ableger der „Nationalen Befreiungsfront“ auch in Idlib stationiert ist, wenn auch nur noch in geringer Schlagkraft, sieht sich dagegen in der Defensive: Moskau und Damaskus drängen auf die Zerschlagung der Radikalislamisten Idlibs durch die türkische Armee. Ankara kam Moskau versöhnlich entgegen und listete die HTS als Terrorgruppe. 

Was die Türkei fürchtet, ist im Falle einer Offensive ein weiterer Exodus von bis zu anderthalb Millionen Flüchtlingen. „Jeder Angriff auf diese Provinz“, bestätigte Recep T. Erdogans Regierungssprecher Ibrahim Kalin, werde eine „neue Welle der Auswanderung in die Türkei auslösen, und von hier aus nach Europa“.