© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Pankraz,
Ernst Fraenkel und der Maßnahmenstaat

Jeder Staat, ob nun demokratisch, autoritär oder wie auch immer verfaßt, hat ein Doppelgesicht. Einerseits faßt er die Traditionen, Alltagsgebräuche und diversen Machtansprüche von Volks- und Stammesgemeinschaften zu Gesetzesgebäuden zusammen, fixiert sie schriftlich und stellt Verstöße gegen das Gesetz unter Strafe; andererseits verschafft er machtbewußten, zur Herrschaft gelangten Persönlichkeiten oder ganzen Gruppen die Möglichkeit, ihre Herrschaftsgelüste durch allerlei Maßnahmen „in Gesetze zu gießen“ und so ihre Herrschaft letztlich unangreifbar zu machen.

Wir haben es also bei Staaten immer mit „Doppelstaaten“ zu tun, einer Gemengelage aus „Normenstaat“ und „Maßnahmenstaat“. In der Demokratie mit ihrer gesetzlich festgelegten Gewaltenteilung wird diese Doppelung nur scheinbar aus der Welt geschafft; denn die drei dort markierten Gewalten, Legislative, Exekutive und Judikative, sind ja nicht von Natur aus voneinander getrennt; Menschengruppen mit gemeinsamen Herrschaftsgelüsten füllen sie und stimmen sie nötigenfalls aufeinander ein. Zudem treten laufend neue Gruppen hervor und kämpfen um ihre Anerkennung als vierte, fünfte, x-te Gewalt.

Es war Ernst Fraenkel (1898–1975), der dieses Doppelgesicht von Staatlichkeit als erster benannte und ausführlich analysierte. Der in Köln geborene freiwillige Erster-Weltkrieg-Teilnehmer studierte danach Jura und Staatsrecht und arbeitete während der Weimarer Republik vor allem als Rechtsanwalt für die Gewerkschaftstsbewegung. Von den Nationalsozialisten als Jude mit Berufsverbot belegt, emigrierte er 1938 nach New York, wo er das Buch „The Dual State“ schrieb, eben den „Doppelstaat“, mit dem er im Fach sofort Aufmerksamkeit erregte.

 

Am Beispiel des Dritten Reiches im Vorkriegsstadium demonstrierte Fraenkel seine Thesen. Alles ging dort höchst gesetzmäßig zu. Die Regierung war formal frei gewählt, und jeder ihrer Handlungen ging ein juristisch gar nicht leicht angreifbares Gesetz voraus. Der „Normenstaat“ schien weitgehend in Ordnung – und trotzdem, so zeigte Fraenkel höchst faktenreich und in luzider Darstellung, verwandelte er sich Zug um Zug in den reinen „Maßnahmenstaat“, in dem eine herrschaftslüsterne Gruppierung, gut verteilt auf alle drei demokratischen Teilgewalten, ungeniert und unisono ihre Gewaltpolitik betrieb.

So bald wie möglich kehrte Fraenkel 1948 nach Deutschland zurück. Ab 1963 wirkte er als erster Direktor des  „John F. Kennedy-Instituts für Nord-amerikastudien“ am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Als solcher geriet er dann voll ins Terrorvisier der gerade an diesem Institut sehr mächtigen 68er. Deren Lieblings-Brüllvers, „Brecht dem Schütz die Gräten,/ Alle Macht den Räten“, wurde extra für Fraenkel umgedichtet. In seinen Vorlesungen saß ein Haufen 68er und brüllte so lange „Brecht dem Fraenkel die Gräten/ Alle Macht den Räten“, bis Fraenkel die Vorlesung abbrechen mußte.

Der große Gelehrte starb in Berlin in Einsamkeit und Verzweiflung. Sein „Doppelstaat“ wurde erst 1974 ins Deutsche übersetzt und erschien in der Europäischen Verlagsanstalt. Das Echo war damals gleich Null, und so ist es merkwürdigerweise bis heute geblieben, obwohl das Werk als Taschenbuch billig und bequem zu erwerben ist. Erst jetzt scheint sich das – glücklicherweise – zu ändern; ein Essay von Ulrich Schacht in der Würzburger Tagespost ist ganz dem Thema „Ordnungsstaat kontra Maßnahmenstaat“ gewidmet, und auch Ernst

Fraenkel wird darin respektvoll gewürdigt.

Es wurde ja auch Zeit. Die Selbstgefälligkeit, mit der die jeweils Herrschenden (nicht zuletzt hierzulande) ihre je eigene momentane Herrschaft als das Nonplusultra von Staatlichkeit überhaupt ausgeben und jeden, der das zu bezweifeln wagt, mit Mediengetöse zum „Staatsfeind“ erklären, ist mittlerweile schier unerträglich geworden. Daß sich neue Parteien herausbilden, weil es neue Problemfelder gibt, die zum Ausdruck drängen und von den herrschenden Kräften ignoriert werden – dergleichen wird schon als  pure Staatsfeindschaft hingestellt! Pankraz faßt es nicht.


Maßnahmenstaat auf breitester Front. Statt drängende Probleme zu bekämpfen, bekämpft man diejenigen, die die Probleme erkannt haben und sich ihrer Bewältigung widmen. Weil man selber nicht in der Lage oder nicht dazu willens ist, ordentlich Maß zu nehmen, greift man zu „Maßnahmen“, als da sind: öffentliche Ausgrenzung derer, die die Probleme erkannt haben, Kontaktsperren, Denunziation und Datenklau, polizeiliche und geheimdienstliche Überwachung. Die Parallelen zu den Beispielen, die Fraenkel in seinem Buch schildert, sind unübersehbar.

Und im selben Takt, mit dem der Maßnahmenstaat sich ausbreitet, verfällt der Ordnungsstaat, der „eigentliche Staat“, der  angetreten ist, das Leben der Völker zu sichern, indem er es mit solider Sprache versieht, indem er „Recht spricht“, indem er jeden einzelnen mit der Würde des Gesetzes konfrontiert.  Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitgeschichte untersuchte einmal die Entwicklung „einfacher“, an sich völlig  unpolitischer ordentlicher Gerichtsbarkeit in der Sowjetunion – und siehe da: deren Qualität war im Lauf der Jahrzehnte kontinuierlich zuückgegangen und wies am Ende nur noch kümmerlichste Reste von Stil auf.

Der Maßnahmenstaat, so erwies sich beim Untergang der Sowjetunion 1991, hatte den Ordnungsstaat völlig ausgesaugt, ihn regelrecht abgetötet. Und die Vermutung liegt nahe, daß dieses Begebnis politologisch verallgemeinerbar ist. Wenn ein Staat – welcher Form auch immer – nicht in der Lage ist, seiner Maßnahmelust Zügel anzulegen, wird er sich, so lernen wir, wie von selbst in eine Diktatur, in eine Gewaltherrschaft verwandeln und sich schließlich an seinen eigenen Stricken aufhängen.

Bloße formale Gewaltenteilung hilft dagegen nicht. Nötig ist vor allem ein machtvoller allgemeiner Wille zur Reformation und der (friedliche) Austausch unfähiger sogenannter Eliten.