© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Geburt und Tod „Kakaniens“
Der Ausgleich Österreichs und Ungarns von 1867 hielt etwas länger als fünfzig Jahre und fand vor einhundert Jahren sein Ende
Lothar Höbelt

Im Jahre 1989 soll der ungarische Außenminister Gyula Horn auf die Frage eines linientreuen kommunistischen Journalisten „Was hat Ihnen die Bundesrepublik für die Öffnung der Grenze bezahlt?“ geantwortet haben. „Nichts. Wir begleichen nur eine historische Schuld. Im neunzehnten Jahrhundert hat die deutsche Einheit die ungarische Freiheit gebracht; diesmal wird es umgekehrt sein.“ Wenn die Anekdote nicht wahr sein sollte, so ist sie jedenfalls gut erfunden, sehr gut sogar, da dieses Zitat von einem lebendigen historischen Bewußtsein zeugt. Es hat immerhin einen realistischeren Kern als all die kitschigen Geschichten über Kaiserin „Sisi“, die im Zusammenhang mit dem Zustandekommen des Ausgleichs gerne kolportiert werden. 

Nationalitätenkonflikte dominierten in Cisleithanen

Der Historiker sollte freilich auch das schöne Horn-Zitat ein wenig hinterfragen. Denn die Verhandlungen Kaiser Franz Josephs mit den latent rebellischen Ungarn waren schon lange vor der Schlacht von Königgrätz im Gang, die als Markstein am Weg zur deutschen Einigung gilt. Ja, man rechnete es den Ungarn als besonderes Verdienst an, daß sie nach der österreichischen Niederlage nicht mehr verlangt hätten als vorher. Der Ausgleich machte aus dem Kaisertum Österreich, das seit der Niederschlagung der Revolution von 1848 zentralistisch regiert worden war, die „österreichisch-ungarische Monarchie“. Dieser Ausgleich ist seither oft zum Sündenbock gestempelt worden. Die Teilung der Monarchie hätte ihren Niedergang eingeläutet, behaupteten die alten Zentralisten: Die Wiener Bürokratie brauchte eben eine gewisse Zeit, bis sie sich daran gewöhnt hatte, daß sie jenseits der Leitha, des Grenzflusses, der kaum zwanzig Kilometer vor Wien verlief, nicht mehr so schalten und walten konnte wie bisher. 

Aber dieses „bisher“ war eine Illusion, es war Resultat der Ausnahmesituation nach 1848, als die kaiserliche Armee das Land zurückerobert hatte. Mit Bajonetten läßt sich viel machen, lautet ein alter Spruch, aber es läßt sich nur sehr schwer darauf sitzen. Irgendwann mußte es zu einer Lösung kommen, welche der historischen Entwicklung besser Rechnung trug: Die sogenannten „Erblande“, der böhmisch-österreichische Kern der Monarchie, der jahrhundertelang Teil des Heiligen Römischen Reiches, dann des Deutschen Bundes gewesen war, wurde schon seit den Tagen Maria Theresias zentral verwaltet, Ungarn nicht: Dort herrschte die Selbstverwaltung der „Komitate“, von Ungarn gern mit den englischen Grafschaften verglichen, von Kritikern als die Anarchie des Bundschuhadels abqualifiziert. Schlimmer noch: Ungarn entwickelte sich zur Kornkammer der Monarchie, aber es war ein armes Land – zahlte es sich da überhaupt aus, hinter jeden der mißtrauisch beäugten Magyaren einen Gendarmen zu stellen?

In der Praxis regierten die Ungarn nach 1867 ihre „Reichshälfte“ sehr wohl zentralistisch. Daraus leitete sich sogar der Vorwurf ab, das Nationalitätenproblem der Monarchie sei wegen der starren Haltung der Magyaren eskaliert. Das stimmt jedoch nicht: Die beiden brisantesten Konflikte, der deutsch-tschechische und der polnisch-ukrainische, waren auf die österreichische Reichshälfte, das sogenannte „Cisleithanien“ beschränkt. Die Serben wurden von den Ungarn gern gegen die Kroaten ausgespielt, sie beschwerten sich viel mehr über Bosnien; nur die Rumänen in Siebenbürgen waren ein „transleithanischer“ Gefahrenherd, der aber bis kurz vor 1914 keine allzu großen Schwierigkeiten produzierte. 

Wenn man schon in diesen ethnischen Termini dachte, dann verschaffte der Ausgleich dem Regime wenigstens statistisch eine solide Basis. Auf einen vielleicht allzu einfachen Nenner gebracht: Deutsche und Magyaren kooptierten die Polen und die Kroaten als Juniorpartner und repräsentierten damit eine Mehrheit der Bevölkerung der Monarchie. Der vielzitierte Panslawismus aber erwies sich als ein Popanz: Denn die Slawen waren alles, nur nicht einig. Das Nationalitätenproblem war nicht durch einen Geniestreich zu lösen – worum es ging, war, die Völker in „wohltemperierter Unzufriedenheit“ zu erhalten.

Der Ausgleich beendete den Verfassungskonflikt, der Mitte der sechziger Jahre in Österreich genauso schwelte wie im Preußen Bismarcks. Die Dezemberverfassung von 1867 schuf in Wien und Budapest zwei Parlamente und zwei Regierungen. In Österreich setzte sich das Parlament aus acht verschiedenen Nationalitäten zusammen, die jede noch in mehrere Parteigruppen zerfielen. Der Regierung fiel es da leicht, eine Gruppe gegen die andere auszuspielen – oder mit dem Notverordnungsparagraphen zu regieren, ohne dabei auf geschlossenen Widerstand zu stoßen. Denn den meisten Völkern war das autoritäre Regime im Zweifelsfall lieber als eine parlamentarische Mehrheitsregierung, die sich auf ihre nationalen Gegner stützte. 

In Ungarn hingegen betrieb man Parlamentarismus nach englischem Vorbild. Der ungarische König Franz Joseph ernannte den Kandidaten der Mehrheitspartei zum Ministerpräsidenten. Der Schönheitsfehler lag darin: Es war – mit einer Ausnahme – immer dieselbe Partei, die Liberale Partei von Vater und Sohn Tisza. Die Tiszas wurden in Wien gern als ungarische Nationalisten verteufelt; aber die Opposition der „Unabhängigkeitspartei“ war da noch viel suspekter. Ministerpräsident Graf Istvan Tisza entwickelte sich vor 1914 zum ersten Staatsmann der Monarchie, mit einer Machtfülle, der kein Österreicher auch nur nahe kam. Ein prominenter Österreicher seufzte deshalb einmal: „Warum gibt es in Österreich keinen Tisza?“ Und Wilhelm II. fügte auf dem Bericht die Randbemerkung hinzu: „Solch einen könnte manch anderer auch gebrauchen.“ 

Zugegeben: Die Dezemberverfassung machte alles sehr kompliziert. Robert Musil hat den Begriff „Kakanien“ populär gemacht. Behörden waren entweder k.u.k. (kaiserlich und königlich, wenn für das gesamte Reich zuständig, wie die Armee), k.k. (bloß kaiserlich-königlich, für die österreichische Reichshälfte) oder bloß k. (für Ungarn). Zwischen Österreich und Ungarn waren Dauerkonflikte an der Tagesordnung, zumeist über wirtschaftliche Fragen. Da wurde dann genau nachgerechnet, welcher Zoll wen mehr traf. Ob die Ungarn jetzt mehr oder weniger Kaffee tranken als ihrem Bevölkerungsanteil entsprach? Oder wer welchen Exporteuren beim Transit welche Eisenbahntarife verrechnete. EU-Beamten dürften heute derlei Querelen bekannt vorkommen. Ein böses Wort sprach von der Monarchie auf Kündigung, weil alle zehn Jahre die Zollsätze und der Anteil am Militäraufwand neu berechnet werden mußten. Doch allen Unkenrufen zum Trotz galt: „Sie bewegt sich doch.“ Es bedurfte immerhin der Niederlage in einem Weltkrieg, um die Konstruktion von 1867 aus den Angeln zu heben.

Wien hegte lange Mißtrauen gegenüber den Ungarn

Für den Kaiser hatte der Ausgleich einen Vorteil. Die Dezemberverfassung glich dem System, das die Engländer nach 1918 in Indien einführen wollten: Dyarchie. Sprich: Die beiden Parlamente entschieden über die Angelegenheiten, die ihren Wählern ein Anliegen waren, Subventionen und Notstandsdarlehen, Eisenbahnen und Gymnasien. Der Kaiser ließ sich dafür in der Außenpolitik und beim Heer nichts hereinreden. Das Heeresbudget wurde bloß den sogenannten „Delegationen“ vorgelegt, Ausschüssen beider Parlamente, mit einem hohen Anteil von Mitgliedern des Herrenhauses, die vom Kaiser ernannt wurden. Die Delegierten wollten selbstverständlich pfleglich behandelt werden, riskierten hin und wieder aufmüpfige Fragen oder hielten zum Gaudium der Presse kritische Reden – aber die Chance oder die Gefahr, daß sie einem kaiserlicher Außenminister das Mißtrauen ausgesprochen hätten, war ungefähr so groß wie die Wahrscheinlichkeit, daß das EU-Parlament nächste Woche Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stürzt.

Lange hielten sich in Wien die Ängste, daß sich die Ungarn ihrer rebellischen Traditionen erinnern würden. Der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand wollte der ungarischen Landwehr (Honved) deshalb am liebsten erst gar keine Kanonen bewilligen. Noch 1905 kam es da einmal zu einer Krise – aus der Franz Joseph als Sieger hervorging. Romantische Erinnerungen an Nationalhelden wie Franz Rakoczy und Lajos Kossuth, die gegen die Habsburger gekämpft hatten, waren schön und gut, aber die ungarische Elite war sich im klaren, daß ein 50-Prozent-Anteil an einer Großmacht der Existenz eines von Feinden umgebenen Kleinstaats vorzuziehen sei. Aus den Wilderern lassen sich die besten Förster rekrutieren. Der Weltkrieg bewies die Verläßlichkeit der Magyaren. 

1918 hieß die Parole dann „Rette sich, wer kann“. Die „Entösterreicherung“ war Trumpf. Nachdem Kaiser Karl I. am 16. Oktober das von der k. k. Regierung Hussarek-Heinlein entworfene „Völkermanifest“ zum Umbau des Kaisertums Österreich in einen Bund selbständiger Nationalstaaten unterzeichnet, reagiert auf Antrag der Regierung Sándor Wekerle der ungarische Reichstag in Budapest – mit Zustimmung von König Karl IV. – und erklärt am 24. Oktober den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 per 31. Oktober für erloschen. 

Immerhin hielt die Gegenrevolution nach dem Intermezzo der Räterepublik 1919 an der Monarchie als Staatsform fest – bloß den König wollte sie bis auf weiteres durch einen Reichsverweser ersetzen. Ihr Vorschlag war: Otto von Habsburg sollte in Ungarn erzogen werden. War er einmal großjährig, dann würde man weitersehen. Darauf wollte sich die Familie jedoch nicht einlassen. Von einer Restauration ist heute nicht mehr die Rede, aber das Erbe der Habsburger wird in Ungarn vielleicht immer noch besser gepflegt als in Österreich: Der schriftliche Nachlaß Ottos wird demnächst in Budapest zur Nutzung offenstehen.