© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

„Warum geht kein Aufschrei durchs Land?“
Keine Krise wird Deutschland so hart treffen wie die demographische. Doch weshalb treiben wir dann Millionen Menschen ab? Und entspricht dies wirklich dem Wunsch der Frauen? Nein, hat Kristijan Aufiero festgestellt – und etwas dagegen unternommen
Moritz Schwarz

Herr Aufiero, Sie sagen: „Eigentlich müßte ein Aufschrei durchs Land gehen.“ Warum?

Kristijan Aufiero: In den letzten Jahrzehnten sind in unserem Land mindestens fünf – laut Sozialwissenschaftler Manfred Spieker sogar über acht Millionen – ungeborene Kinder abgetrieben worden: Acht Millionen Menschen, die schon da waren, die heute unter uns leben würden. Mir persönlich verschlägt es bei diesem Gedanken jedesmal die Sprache. Ja – ich verstehe nicht, warum kein Aufschrei durch dieses Land geht?

Was vermuten Sie, ist der Grund?

Aufiero: Die Frage, warum es immer weniger Kinder gibt und die Diskussion über die demographische Krise sind allgegenwärtig. Es gibt Studien über Studien. Nur: Daß Millionen bereits schwangere Frauen ihre Kinder nicht zur Welt gebracht haben – darüber spricht so gut wie niemand. Selbst ausführliche demographische Studien blenden das Thema komplett aus: Ein typisches Beispiel: Kurt Biedenkopf, Hans Bertram, Margot Käßmann, Paul Kirchhof: „Starke Familie. Bericht der Kommission Familie und Demographischer Wandel“ – kein Wort darin über Abtreibung, kein Wort über Schwangerschaftskonflikte. Ist das nicht erstaunlich, ja unheimlich? Und das gilt für Hunderte Konferenzen, Studien und Presseartikel zum Thema, inklusive des Demographiegipfels der Bundesregierung. Alle fragen, wie man Frauen dazu bringen könnte, Kinder zu bekommen. Keiner fragt, warum über 100.000 Schwangere im Jahr ihr Kind, das schon unterwegs ist, abtreiben lassen? Da wird bewußt weggesehen.

Aber warum?

Aufiero: Ich denke, das Thema berührt ein ideologisches Tabu unserer Gesellschaft. Seit Jahrzehnten will man uns weismachen, Abtreibung hätte etwas mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun. Niemand will hören, daß sich in Wahrheit keine Frau eine Abtreibung wünscht. Daß sich Frauen im Schwangerschaftskonflikt weder frei noch selbstbestimmt fühlen. Ganz im Gegenteil: Sie sind einem massiven Druck ausgesetzt. Jede Schwangere würde die Lösung der Probleme, die sie selbst als Grund für ihren Konflikt benennt, der Abtreibung vorziehen. Niemand will hören, daß schwangere Frauen eine ganz andere Vorstellung von Familie haben als Politiker und Wirtschaftslobbyisten: Sie wünschen sich keine Patchworkfamilie, keine Lebensabschnittspartner und haben in der Regel einen Horror davor, alleinerziehend zu sein. Sie wünschen sich Männer, die sie heiraten, eine Familie mit ihnen gründen und ihnen treu bleiben. Die schöne neue Gender-Welt, in der die Rollen von Frau und Mann beliebig getauscht werden können, hat rein nichts mit den realen Wünschen von Schwangeren zu tun. Diese Tatsachen werden wissenschaftlich, politisch und medial schlichtweg ignoriert. 

Was bedeutet das für betroffene Frauen?

Aufiero: Unsere Aktion 1000plus ist täglich mit der Wirklichkeit von Frauen im Schwangerschaftskonflikt konfrontiert. Sie rufen an, schreiben uns oder kommen in unsere Beratungszentren in Heidelberg, München und demnächst in Berlin. Wir erleben ihre Not und ihre Verzweiflung hautnah mit. Wenn man das jeden Tag dutzendfach miterlebt, kann man es einfach nicht fassen: Wieso interessiert sich kaum jemand dafür, daß über 100.000 Frauen im Jahr mitten unter uns so verzweifelt sind, zu glauben, daß Abtreibung die einzige Alternative ist? Ich kann jedem nur empfehlen, einmal in unserem Online-Forum nachzulesen, wie betroffene Frauen ihre Lage schildern. Danach werden auch sie die sogenannte Abtreibungsfrage mit anderen Augen sehen.

Aber ist bei fünf bis acht Millionen Abtreibungen die Zahl jener Frauen mit Problemen, die dort zu finden sind, repräsentativ? 

Aufiero: Wir haben seit Beginn unseres Projekts über 33.000 Frauen beraten – ja, ich halte unsere Erfahrungen für repräsentativ. Bitte glauben Sie mir: Nichts wäre mir lieber, als wenn sich mal jemand gründlich und wissenschaftlich mit diesem Thema befassen würde! Noch ignorieren Politik und Sozialwissenschaft dieses Feld nach Kräften. Und sie ignorieren vor allem das Leid ungezählter Frauen, die unsagbar unter den Folgen einer Abtreibung leiden. Ich kann Ihnen Tausende solcher Fälle dokumentieren. Nach dem Lesen solcher E-Mails würden Sie tagelang nicht mehr ruhig schlafen können, Herr Schwarz. Und nun stelle ich mal eine Frage: Wie oft lesen Sie davon in den Medien? 

Sie wollen sagen, das Problem wird verschwiegen? 

Aufiero: Es wird ignoriert. Und das ist angesichts des Umstandes, daß es Tausende, ja Millionen Menschen betrifft, doch mehr als erstaunlich. 

Woran liegt das?

Aufiero: Ich glaube daran, daß in Sachen Abtreibung seit Jahrzehnten eine ungeheure Desinformation betrieben wird. Diese Desinformation sorgt dafür, daß das Thema Abtreibung in einer ideologischen Schweigespirale feststeckt. 

Inwiefern?

Aufiero: Der Schwangerschaftsabbruch wurde an Begriffe gekoppelt, die nichts mit der Realität der Abtreibung zu tun haben. Es gibt kaum eine Situation im Leben einer Frau, in der sie sich unfreier, fremdbestimmter und ausgelieferter fühlt als in einem Schwangerschaftskonflikt. Kaum eine Frau wählt eine Abtreibung, wenn sie wirklich frei und selbstbestimmt entscheiden kann. Im Gegenteil, Frauen entscheiden sich für eine Abtreibung, weil sie aus ihrer Perspektive eben gerade keine andere Wahl haben. Unsere Aufgabe als Beratungs- und Hilfsorganisation sehe ich darin, die nötige Freiheit herzustellen, um das Leben wählen zu können. Bitte glauben Sie mir: Böte eine gute Fee all diesen Frauen an, ihre Probleme zu lösen, kaum eine würde noch zur Abtreibung gehen.

Und diese „gute Fee“ ist Ihre Initiative 1000plus?

Aufiero: Wir geben unser Bestes. Jedenfalls haben wir erkannt, daß der Schlüssel, um der gewaltigen Zahl an Abtreibungen in Deutschland entgegenzuwirken, der ist, Schwangeren in Not zu helfen. Deshalb haben wir als Pro Femina e.V. 2009 das Projekt 1000plus gegründet. Damals mit dem Ziel, mindestens eintausend Frauen pro Jahr zu beraten. Angefangen haben wir damals bei 56 im Jahr. Heute sind wir bei 1.500 beratenen Frauen im Monat.

Sie reden also Frauen in Konfliktsituationen ins Gewissen, nicht abzutreiben?

Aufiero: Nein, im Gegenteil. Es ist nicht unsere Aufgabe Moralpredigten zu halten, an das Gewissen zu appellieren oder über Frauen in Notlagen zu urteilen. Unsere Aufgabe ist es, für diese Frauen da zu sein, ihnen zuzuhören, sie zu respektieren und ihnen alle Wertschätzung zu geben, die nötig ist, damit sie zunächst wieder ja zu sich selbst und zu ihrem eigenen Leben sagen können. Und dann geht es schlicht und einfach darum, die Probleme abzuarbeiten, die die Frau selbst als Ursache für ihren Schwangerschaftskonflikt benennt und gemeinsam Lösungswege zu erarbeiten. 

Warum wenden sich schwangere Frauen an 1000plus und Pro Femina? 

Aufiero: 39 Prozent haben Partnerschaftsprobleme, etwa sagt der Partner strikt „nein“ zum Kind, oder die Schwangerschaft findet in einer Beziehung statt, die von Dauerstreit geprägt ist. Oder sie sind schwanger geworden, obwohl man bereits in Trennung lebt etc. 29 Prozent nennen „biographische“ Gründe, das heißt, die Schwangere sagt innerlich: „Nicht jetzt!“, etwa weil sie sich zu jung fühlt oder zu alt. Oder weil die Schwangerschaft einfach nicht zur aktuellen Lebensplanung paßt. An dritter Stelle der benannten Konfliktursachen steht bei 1000plus/Pro Femina mit zehn Prozent das Gefühl der Überforderung. Zum Beispiel, weil bereits Kinder vorhanden sind, und ein weiteres wird einfach als zu viel empfunden. Rein materielle Gründe, also finanzielle Not, nennen nur etwa sechs Prozent als Grund – entgegen der Annahme vieler Menschen, Schwangerschaftskonflikte hätten immer etwas mit Geldproblemen zu tun. 

Hinter 1000plus steht mit Pro Femina als Träger eine christliche Initiative. Ist Ihre Beratung religiös orientiert?

Aufiero: Nein. Das Thema Religion hat – solange die Schwangere nicht darüber sprechen möchte – nichts in einem Beratungsgespräch zu suchen. Zwar beraten unsere 35 Beraterinnen aus christlicher Überzeugung heraus. Aber: Die Motivation unseres Tuns soll den Frauen implizit zugute kommen, nicht auf einem Tablett vor uns hergetragen werden.

Wie sieht Ihre Hilfe konkret aus?

Aufiero: Das beginnt mit der Bereitstellung von Informationen, die Frauen in solchen Situationen üblicherweise suchen. Erster Anlaufpunkt ist unsere Internetseite profemina.org, die pro Monat über 70.000mal besucht wird, Tendenz steigend, – das ist über eine Dreiviertelmillion mal im Jahr. Das Angebot, über diese Seite beziehungsweise über unsere kostenlose Telefonhotline mit uns Kontakt aufzunehmen, nutzen wie gesagt etwa 1.500 Frauen im Monat. Manche fragen nur ein einziges Mal um Rat. Andere beraten wir über Jahre. Information, Beratung und konkrete Hilfe sind die drei Pfeiler unserer Arbeit.Manchen Frauen hilft schon, daß sie sich überhaupt anvertrauen können und ihnen jemand zuhört. Anderen hilft, daß wir wirksame Ratschläge geben können, die wir aus unserer langjährigen Erfahrung gewonnen haben: Etwa, daß ein Partner, der das Kind nicht will, später häufig zu einem liebevollen Vater wird. Wir geben konkrete Strategien an die Hand, wie sie mit ihm in dieser Lage am erfolgreichsten kommuniziert und wie sie verhindert, daß es nach fünf Minuten wieder zum Streit kommt. Viele brauchen einfach nur Mut, um sich überhaupt dieser Herausforderung zu stellen. Und natürlich versuchen wir auch, bei ihr Verständnis für den Partner zu wecken, der sich meist nicht deshalb negativ verhält, weil er ein schlechter Mensch ist, sondern weil er selbst Ängste hat und sich insgeheim überfordert fühlt. Übrigens, die Frauen, die sich tatsächlich aus rein materieller Not an uns wenden, sind die einfachsten Fälle. Denn hier kann ganz praktisch geholfen werden, etwa indem wir einen Einnahmen/Ausgaben-Plan für sie erstellen und nach den Schwachstellen ihrer Haushaltsführung suchen, notfalls eine Schuldenberatung organisieren und gegebenenfalls finanziell helfen.

Wie finanzieren Sie all das? 

Aufiero: Durch Spenden. Wir haben etliche Spender, die entschlossen sind, Frauen in finanzieller Notlage zu helfen, damit ihr Kind nicht abgetrieben werden muß. Insgesamt haben in den letzten zehn Jahren 37.000 Menschen in Deutschland unsere Arbeit durch Spenden unterstützt, was ich immer wieder als ein Geschenk des Himmels empfinde! Das sind keine Firmen, Institutionen oder großen Organisationen. Es sind Menschen wie Sie und ich, Menschen die wollen, daß Schwangere in Not Beratung und Hilfe erhalten, die Entscheidungen für das Leben ermöglichen.

Die Bistümer Freiburg, Speyer, Würzburg und Augsburg haben ihren Pfarrern untersagt, die Kollekte 1000plus zu spenden. Warum? 

Aufiero: Eine gute Frage. Man würde meinen, daß die Kirchen über unsere Arbeit hoch erfreut sein würden. Statt dessen verhindert man mancherorts, daß die Gläubigen von 1000plus auch nur hören. Der Generalsekretär der Caritas war sich im Mai 2014 nicht zu schade, in einem Rundschreiben an die Caritasdirektoren aller Bistümer dazu aufzurufen, 1000plus-Sammelverbote in katholischen Gemeinden zu erwirken. Ein erstaunlicher Vorgang.

Ihnen wird Sexismus, Fundamentalismus, „rechte Hetze“ und sogar Frauenfeindlichkeit vorgeworfen. Warum das?

Aufiero: Ach, das sind dumme Platitüden, hinter denen ein schlechtes Gewissen steckt. Haben Sie schon mal eine antisexistische Aktion gesehen, von denen diese Vorwürfe kommen, die etwas für Frauen im Schwangerschaftskonflikt tut?

Fürchtet man in der Kirche diese Vorwürfe und distanziert sich deshalb? 

Aufiero: Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es aber auch der Erfolg von 1000plus, der provoziert. Vielleicht denkt manch einer auf seiten der Kirchen, daß nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf.

Wieso grenzen Teile der Kirche eine Initiative aus, die eine Privataudienz beim Papst bekommen, die dieser mit den Worten: „Was für eine schöne Arbeit!“ gelobt hat? 

Aufiero: Ich weiß es nicht. Aber es gibt auch einzelne Bischöfe, der von Eichstätt, von Regensburg und der Weihbischof von Rottenburg-Stuttgart, die unsere Arbeit schätzen und unterstützen.

Am Samstag treffen sich in Berlin die deutschen Lebensrechtsinitiativen, um mit dem jährlichen „Marsch für das Leben“ durch die Hauptstadt auf die Lage des Lebensschutzes aufmerksam zu machen. 1000plus ist nicht dabei. Warum nicht? 

Aufiero: Ich habe ungeheuren Respekt vor den Menschen, die Kosten und Mühen auf sich nehmen und sich von weit her auf den Weg nach Berlin machen, um ein Zeichen für den unbedingten Schutz des Lebens zu setzten. Aber ich selbst bin davon überzeugt, daß Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit unserer Position in der Gesellschaft und im Prozeß der Meinungsbildung vor allem anderen von der Antwort auf die Frage abhängt, was wir für Frauen im Schwangerschaftskonflikt tun – weniger davon, zu wie vielen wir demonstrieren gehen.

Mit Demos weist man auf Mißstände hin.

Aufiero: Mag sein. Trotzdem: 1000plus ist nicht politisch, wir sind eine Frauenhilfsorganisation. 

Politische Veränderungen könnten Verhältnisse schaffen, die mehr Frauen in Not helfen, als Sie je beraten können. 

Aufiero: Genau deshalb werden wir nicht müde, den Menschen in unserem Land die Wahrheit über schwangere Frauen in Not zu erzählen. Wenn wir die Mehrheit in den Köpfen der Menschen zurückgewinnen, dann werden die politischen Mehrheiten folgen. 






Kristijan Aufiero, ist Leiter der Initiative 1000plus und Vorsitzender des Vereins Pro Femina. Der Diplom-Politologe wurde 1969 in Kroatien geboren und ist in München aufgewachsen. 

 www.1000plus.net

 www.profemina.org

Foto: Kinder statt Krise: „Alle fragen sich, wie man Frauen dazu bringt, mehr Kinder zu kriegen. Aber keiner fragt, warum 100.000 Schwangere im Jahr abtreiben lassen. Ist das nicht erstaunlich?“    

 

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