© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

„Die Hälfte scheitert am Deutschtest“
Sozialpolitik: Im Jahre 2035 werden vier Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig sein / Diskussion um Fachkräfteanwerbung
Henning Lindhoff

Bis zum Jahr 2035 werden rund vier Millionen Ältere in Deutschland auf Pflege angewiesen sein. Zu diesem Schluß kommt eine aktuelle Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Ausgangspunkt der Berechnungen war die Versorgung der Bevölkerung der kommenden Jahrzehnte zu heutigen Bedingungen, basierend auf den aktuellsten Daten der Pflegestatistik 2015. Damals hatte die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland noch bei drei Millionen gelegen.

Die IW-Simulationsrechnungen verdeutlichen, daß eine Entspannung in keinem der 16 Bundesländer zu erwarten ist. Überall müssen sich Politiker, Versicherer und Dienstleister auf einen Zuwachs der Pflegebedürftigen einstellen. Den höchsten Anteil von Pflegebedürftigen an der Bevölkerung wiesen im Jahr 2015 Mecklenburg-Vorpommern (5,1 Prozent), Brandenburg (4,8 Prozent) und Sachsen-Anhalt (4,7 Prozent) auf, gefolgt von Thüringen (4,6 Prozent) und Sachsen (4,4 Prozent). Bayern (2,9 Prozent) und Baden-Württemberg (3,3 Prozent) sowie Schleswig-Holstein (3,4 Prozent) lagen deutlich darunter.

Auf fünf freie Stellen kommt ein arbeitsloser Pfleger

Die Zahl der Pflegefachkräfte müsse angesichts der steigenden Zahlen deutschlandweit bis 2035 um 44 Prozent auf eine halbe Million steigen, so glauben die IW-Forscher. Zur Zeit kämen auf 100 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) gemeldete Stellen für Altenpfleger nur 22 arbeitslose Fachkräfte. Dabei werde nur jede zweite offene Stelle bei der BA gemeldet. Als Altenpfleger arbeiten derzeit 244.000 Menschen. Hinzu kommen 228.700 Pflegehelfer. Um einen Kollaps zu verhindern, müsse der Pflegeberuf attraktiver werden – sprich: Es muß mehr gezahlt werden.

„Zu erwarten, daß diese zusätzlichen Pflegebedürftigen alle ‘informell’, das heißt ausschließlich von Angehörigen gepflegt werden, ist bereits vor dem gegenwärtigen Hintergrund ein eher unrealistisches Szenario“, so das IW. Je nach Bundesland würden derzeit 40 bis 55 Prozent der Pflegebedürftigen informell gepflegt. Dieser Anteil habe sich in den letzten 15 Jahren kaum verändert.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) versprach im Frühjahr, 13.000 neue Fachkräfte einzustellen: „Die Einladung von Pflegepersonal aus unseren Nachbarländern ist die nächstliegende Option“, meinte der CDU-Politiker. Trotz offiziell 16,8 Millionen Arbeitslosen in der EU – davon 600.000 in Polen und 126.000 in der Tschechei – schwärmte Spahn vom Kosovo und Albanien. Dort gebe es ein großes Potential für Nachwuchskräfte: „Dort ist die Pflegeausbildung oft besser, als wir denken.“ Und viel billiger, wäre ehrlicherweise hinzuzufügen.

Wo es an der Ausbildung mangelt, will der BWL-Professor Klaus Watzka mit Pflegefachschulen nach deutschen Standards nachhelfen. „Die Absolventen stünden dem deutschen Arbeitsmarkt sofort zur Verfügung. Intensive Sprachtrainings werden vorgeschaltet und finden parallel zur fachlichen Ausbildung statt“, schreibt der Wissenschaftler von der Jenaer Ernst-Abbe-Hochschule in seinem Positionspapier zum Pflegekräftemangel. Organisieren will Watzka die Pflegefachschulen über Verträge auf Regierungsebene.

Die Caritas in München und Freising wirbt bereits seit 2015 gezielt Pflegekräfte von den Philippinen an. Dabei kooperiert sie mit der BA und der Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Letztere wirbt seit fünf Jahren aktiv Pflegekräfte an. 2.280 Personen wurden seitdem insgesamt vermittelt – auf der Grundlage von Abkommen mit den Philippinen, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Tunesien.

Doch es bestehen erhebliche Probleme bei der Visa-Erteilung: „Was mich verzweifeln läßt: Diese geschulten Fachleute benötigen oft zehn Monate, um ein Visum zu erhalten. Wir müssen diese Prozesse beschleunigen“, so Spahn. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will eine spezielle Aufenthaltserlaubnis für ausländische Pflegekräfte einführen. Eugen Brysch, der Vorsitzende der Deutschen Stiftung für Patientenrechte (DSP), warnt indes, daß der vor drei Jahren verschärfte Deutschtest, an dem bis zur Hälfte der Bewerber scheitert, nicht verwässert werden dürfe. Die Fähigkeit zur klaren Kommunikation ist für medizinisches Personal entscheidend.

Das IW rät, beim Verdienst nachzubessern. Altenpfleger verdienen mit 2.621 Euro im Schnitt 19 Prozent weniger als Gesundheits- und Krankenpfleger. Spahn hat dazu die „Konzertierte Aktion Pflege“ gegründet. Gemeinsam mit Kassenverbänden, Leistungserbringern und Pflegeberufsverbänden will er auch für heimische Pflegefachkräfte ein „dickes Paket“ schnüren und den Beruf attraktiver für junge Menschen machen – mit besseren Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten, einem Flächentarifvertrag und mehr Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung. Konkrete Vorschläge soll die Runde 2019 liefern.

Die Idee, statt Pflegekräfte zu importieren, die Pflegebedürftigen zu „exportieren“, thematisiert das IW nicht. In Frage kämen dabei, „wenn sie bei der Pflege eines Angehörigen 1.000 Euro pro Monat einsparen könnten“ laut einer Umfrage von PricewaterhouseCoopers für knapp die Hälfte der Deutschen auch eine Pflegeeinrichtung im Ausland, etwa in Polen und Spanien. Wichtig seien dabei aber deutschsprachiges Personal und vergleichbare medizinische Standards.

„Die Entwicklung der Pflegefallzahlen in den Bundesländern“, IW Report 33/18: iwkoeln.de

Umfrage von PricewaterhouseCoopers (PwC): pwc.de/