© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Verschleiern und vertuschen
Katholische Kirche: Eine neue Studie belegt massiven sexuellen Mißbrauch in deutschen Bistümern
Marco F. Gallina

Es klingt wie ein Déjà-vu: Katholische Prälaten vergehen sich an Minderjährigen, vornehmlich Jungen, und werden von Amtskollegen und Bischöfen gedeckt. Die Zahl der Mißbrauchsopfer bewegt sich im vierstelligen Rahmen; die Täter werden in die nächste Pfarrstelle versetzt, wo sie nach kurzer Zeit rückfällig werden. Weitergehende Aktionen oder Bemühungen auf der Bistumsebene? Fehlanzeige. Die Gemeinden erhalten in den meisten Fällen keine Informationen über das vergangene Treiben ihres neuen Priesters. 

Was auf den ersten Blick nach den Erkenntnissen aus dem US-amerikanischen Pennsylvania-Report (JF 37/18) ausschaut, der selbst Bischöfe und Erzbischöfe von ihren Stühlen zu rütteln droht, hat stattdessen mitten in Deutschland stattgefunden. Anders als der Pennsylvania-Report, den die Staatsanwaltschaft erstellte und im August enthüllte, handelt es sich bei der deutschen Studie hingegen um einen Auftrag von seiten der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Der Zusammenschluß aller katholischen Bischöfe Deutschlands hatte schon 2011 die Aufgabe an Christian Pfeiffer und das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen delegiert, sämtliche Personalakten der 27 Bistümer nach Hinweisen auf sexuellen Mißbrauch untersuchen zu lassen. Bereits 2013 zerstritten sich die DBK und Pfeiffer: Die Bischofskonferenz sah das Vertrauensverhältnis als zerrüttet an, Pfeiffer sprach davon, daß die Bischöfe die Studie zu „zensieren“ versuchten. Das Projekt wurde ohne Pfeiffer fortgesetzt, der jetzt bereits davon spricht, daß die Studie „große Schwachpunkte“ aufweise.

Doch selbst wenn es sich bei der Mißbrauchsstudie nur um die berüchtigte Spitze des Eisberges handelt – die Statistiken sind erschreckend genug, um eine ähnliche Lawine auszulösen wie in den Vereinigten Staaten. 1.670 Prälaten zählt die Studie in den Jahren 1946 bis 2014 als Täter auf. Die Mehrheit der 3.677 Mißbrauchsopfer – hauptsächlich männlich im Durchschnittsalter von 13 Jahren – stand in einem Vertrauensverhältnis zum Täter.

Ähnlich wie in den USA steht eine unbekannte Dunkelziffer im Raum, da Akten redigiert oder vernichtet wurden; und ebenso ähnlich verhielt es sich mit Sanktionen gegen kriminelle Priester, von denen sich nur ein Drittel einem kirchenrechtlichen Verfahren stellen mußte und meistens mit minimalen Auflagen davonkam. Im übrigen gebe es keinerlei Hinweise, daß es sich „um eine in der Vergangenheit abgeschlossene und mittlerweile überwundene Thematik handelt“.

Details der DBK-Studie sind bislang unbekannt – was darin begründet liegt, daß die Studie eigentlich erst am 25. September vorgestellt werden sollte. Wie eine Zusammenfassung der Ergebnisse an den  Spiegel gelangte, ist bisher unbekannt. Der Mißbrauchsbeauftragte der DBK, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, zeigte sich über den Vorgang besonders verärgert, weil durch „Indiskretion“ ein Papier an die Öffentlichkeit gelangt sei, von dem selbst viele Bischöfe keine Kenntnis gehabt hätten.

Es brauchte nicht lange, bis sich die Bischöfe und Erzbischöfe der wichtigsten deutschen Bistümer zu Wort meldeten. Im Gegensatz zu den USA, wo sich hochrangige Prälaten wie der Erzbischof von Washington Donald Wuerl verteidigten, in ihren Jahren als Bischof gute Arbeit geleistet zu haben, zeigten sich die deutschen Bischöfe allesamt beschämt. Von Sanktionen oder konsequenten Plänen, um den Mißbrauch in Zukunft zu verhindern, war dagegen bisher wenig zu hören. Einzig der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki („Ich dulde in unserem Erzbistum keinerlei Vertuschung“) und der Passauer Bischof Stefan Oster, der von einer „Reinigung“ sprach, wählten deutlichere Worte.

Die Nuancen in den Erklärungen der Bischöfe sind nicht unwichtig, da seit den Vorfällen in den USA zwei Lager die katholische Kirche dominieren: einerseits die schonungslosen Aufdecker, die rigoros die Kirche von allem „Schmutz“ säubern wollen, andererseits das Lager derjenigen, die „Strukturen“ innerhalb des Klerus dafür verantwortlich machen. So erklärte der Essener Bischof Overbeck, daß „einige Vorstellungen und Aspekte unserer katholischen Sexualmoral sowie manche Macht- und Hierarchiestrukturen sexuellen Mißbrauch begünstigt haben und immer noch begünstigen“.

Overbeck bedient damit eine Erklärung, der auch hohe Kreise im Vatikan samt Papst Franziskus zuneigen. Demnach unterwandere ein diffuser „Klerikalismus“ die katholische Kirche, den es durch Reformen zu bekämpfen gelte. Auch die Zusammenfassung der Mißbrauchsstudie weist einen vielsagenden Passus auf: „Die grundsätzliche Ablehnung der katholischen Kirche zur Weihung homosexueller Männer ist dringend zu überdenken.“ Ähnlich gilt der Zölibat als möglicher „Risikofaktor“.

Die Stelle ist deswegen bemerkenswert, da sie eine ideologische Unterwanderung der katholischen Doktrin darstellt, welche die Sündhaftigkeit der Homosexualität festschreibt – ein eherner Grundsatz, der von liberalen Anführern unter den Kardinälen seit Jahren unter Beschuß steht. Die Behauptung, die Kirche verweigere Homosexuellen die Weihe, ist deshalb schon ad absurdum geführt, weil das liberale Lager von der Homo-Lobby angeführt wird. Dieser gehörte der kürzlich seines Kardinalamtes enthobene Theodore McCarrick an, der als Spinne im Netz der Mißbrauchsvertuschungen in den USA gilt – und selbst zahlreiche sexuelle Übergriffe auf Seminaristen beging. Daß die straffälligen Prälaten oftmals selbst homosexuelle Neigungen hatten und von ihren homosexuellen Kollegen geschützt wurden, ist bis heute ein noch viel zu selten besprochenes Thema der Medien. Viele Experten sehen daher weniger in der katholischen Sexualmoral als vielmehr in der ungezügelten Sexualität homosexueller Kleriker das Hauptproblem.

Daß eine solche Analyse den Zeitgeist herausfordert, ist auch den meisten Kirchenvertretern bewußt. Sie lenken von einem Punkt ab, den es auch im jetzigen Skandal zu verschleiern gilt: das angebliche Unwissen der Bischöfe über die Zustände in ihren Bistümern. Wer den Klerikalismus als Teufel an die Wand malt, muß keine Rechenschaft über seine Taten ablegen. Schon McCarrick hat diese Erklärung nichts genützt.