© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Die Linke, die Revolte und die Konsumgesellschaft
Was Marcuse nicht erkannte
Jost Bauch

Herbert Marcuse, geboren 1898 in Berlin, gehörte neben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu den Exponenten der „Kritischen Theorie“, die als entscheidende Stichwortgeber und als ideologische Außenstütze der Achtundsechziger-Bewegung angesehen werden müssen. Trotz dieser Seelenverwandtschaft mit den Achtundsechzigern ereilte auch Marcuse wie Adorno das Schicksal, daß er bereits in den siebziger Jahren zunehmend in die Kritik der orthodoxen Achtundsechziger marxistischer Prägung geriet, weil die Theoretiker vor der „revolutionären Praxis“ zurückschreckten, die von den Professoren von seiten der Studenten eingefordert wurde. Die Studenten nahmen die „Kritische Theorie“ beim Wort, da sie, wie es Marcuse formulierte, die Theorie als „begriffliche Durchdringung“ der Praxis verstanden.

Der Anspruch Marcuses war hoch: Die Theorie sollte die Vernunft in die gesellschaftliche Wirklichkeit einbringen. Mit der Verwirklichung der Vernunft wäre sodann die Philosophie aufgehoben, sie wäre Teil der Wirklichkeit und nicht deren Kontrapunkt. Aber um die Vernunft in die Wirklichkeit zu bringen, bedarf es eines „revolutionären Subjekts“, das die verdinglichten Sozialstrukturen zerstört und eine nicht-entfremdete Gesellschaft etabliert, so die Vorstellung von Marcuse. Im orthodoxen Marxismus, dem zumindest die Wortführer der 68er anhingen, war dies klar: Das revolutionäre Subjekt ist die „Arbeiterklasse“, die mit ihrer Selbstbefreiung in einem Zug alle gesellschaftlichen Verhältnisse umstößt, in denen der Mensch ein erniedrigtes Dasein fristet.

Dieser Automatismus des dialektischen Umschlagens von Unterdrückung in Freiheit wird aber von Marcuse wie ebenso von Adorno in Frage gestellt. Bereits 1966 stellt Marcuse ernüchtert fest: „Die Kraft der Negation, wir wissen es, ist heute in keiner Klasse konzentriert.“ Bei Adorno wird die Dialektik negativ, und bei Marcuse wird der Verblendungs- und Entfremdungszusammenhang so universell, daß die Verhältnisse „eindimensional“ werden. Im „Eindimensionalen Menschen“ von 1964 beschreibt Marcuse die totale Verstümmelung des verwalteten Individuums, das das Bedürfnis nach Befreiung verloren hat. Das Bedürfnis der Beseitigung der verstümmelnden Verhältnisse hat keine Chance, weil die Verhältnisse genau diese Bedürfnisse unterdrücken und gar nicht erst hochkommen lassen. „Das ist eine Dialektik, aus der ich keinen Ausweg gefunden habe“, heißt es in „Das Ende der Utopie“ aus dem Jahre 1967.

Gerade die Politik der Linken war es, die die Universalherrschaft der technischen Rationalität mit geschaffen hat, weil sie alle gesellschaftlichen Institutionen, die diese Rationalität „einhegen“ und ihre Reichweite begrenzen, zerstört haben.

Die Eindimensionalität der gesellschaftlichen Entwicklung ergibt sich nach Marcuse aus der Universalität der „instrumentell-technischen Vernunft“. Wissenschaftliche Rationalität und Technik sind als solche zum Organisationsprinzip von Herrschaft geworden. Die Anwendung von Technik selbst impliziert Herrschaft, nicht erst deren Verwendungszusammenhang oder die Zwecksetzungen, für die sie gebraucht wird. Gerade ihre Formalisierung, ihre Fungibilität (Paßgenauigkeit) für beliebige Zwecke macht sie vor aller Verwendung als reine Form zu einem Herrschaftsinstrument.

Die praktische Bedeutung eines Gegenstandes, sein „Selbstwert im Dasein“ (Gehlen), wird durch die Anwendung von Technik in Frage gestellt, das Objekt technischer Anwendungen kann rücksichtslos den technischen Operationen ausgesetzt werden. Die Natur kann vernutzt werden, die gesellschaftliche Wirklichkeit wird optioniert, Unverfügbarkeiten werden kontingent, manipulierbar. Kommt zur technischen Rationalität dann noch eine kapitalistische Grundstruktur der Gesellschaft, so sind nach Auffassung Marcuses der Ausbeutung von Mensch und Natur keine Grenzen mehr gesetzt.

Sofort fällt hier die Ähnlichkeit der Technik-Konzepte von Marcuse zu Hans Freyer, Helmut Schelsky und Arnold Gehlen auf. Es hätte sicherlich nur eines weiteren gedanklichen Schrittes zur Erlangung der Erkenntnis bedurft – den Marcuse allerdings nicht vollzogen hat –, daß gerade die Politik der Linken es war, die die Universalherrschaft der technischen Rationalität mit geschaffen hat, weil sie alle gesellschaftlichen Institutionen, die diese Rationalität „eingehegt“ und ihre Reichweite begrenzt haben, wie Familienstrukturen, Nation, gesellschaftliche Tabus, zerstört haben. Entgegen dieser Erkenntnis sinniert Marcuse über eine neue „sensible“ Technik, die die Natur als Subjekt auffaßt (mit Anleihen in der Kunst und Ästhetik), anstatt zu begreifen, daß die Technik nur begrenzt werden kann, wenn sie durch starke gesellschaftliche Institutionen in Schach gehalten wird. So stand Marcuse, ähnlich wie Adorno, ganz kurz vor dem Konservativismus, und marxistisch geprägte Autoren wie Claus Offe haben ihm dann auch eine „erstaunliche und beunruhigende Verwandtschaft zu konservativen Autoren“ vorgeworfen.

Ist die „ökonomisch-technische Entwicklung“ eindimensional und wird das Bedürfnis nach Veränderung nicht mehr sozial repräsentiert (zum Beispiel durch die Arbeiterklasse), so muß über Bewußtseinsprozesse (zum Beispiel der „technischen Intelligenz“ oder der studentischen Avantgarde) in Form einer „Kulturrevolution“ der Boden für Gesellschaftsänderung bereitet werden. Diese „Kulturrevolution“ stand im Zentrum des Denkens der Vertreter der „Kritischen Theorie“ insgesamt. Gerade in Berufung auf Marcuse wendet sich die Linke von der Polit-Ökonomie ab und der Psychologie zu.

Das war für die Linke insgesamt eine Zeitenwende. Denn von nun an beherrschte nicht mehr das polit-ökonomische Paradigma den linken Diskurs – dieser wurde durch einen psychologischen ersetzt. So konnte aus dem antifaschistischen Kampf gegen den Faschismus als letzte historische Stufe des Imperialismus vor seinem Übergang in den Sozialismus (Lenin) ein psychologischer Kampf gegen „faschistoide Einstellungen und Verhaltensdispositionen“ werden; ein Wandel, der sich unheilvoll bis in die heutige Zeit auswirkt. Aus „Gesellschaftsveränderern“ wurden „Menschenveränderer“. Die Last der linken Kritik verlagerte sich von der Ökonomie auf die Psychologie. Dieser Wandel mag erklären, warum der globalistische Finanzkapitalismus so widerspruchsfrei mit den Multikulti-Vorstellungen der Linken zusammengeht.

Wenn laut Marcuse in der Polit-Ökonomie für die Revolution kein Hebel mehr zu finden ist, dann müssen Veränderungspotentiale in Bewußtseinsprozessen aktiviert werden. Marcuse wendet sich dem „autoritären Charakter“ zu. Dieser müsse kulturrevolutionär zerstört werden.

Der moderne Sozialisationstypus für den Konsumkapitalismus ist der seine Bedürfnisse auslebende und sie nicht unterdrückende Mensch. Die 68er haben ideologisch vorweggenommen und vollzogen, was durch die Entwicklung vorgezeichnet war.

Von Luther –„Denn aus der Eltern Obrigkeit fließt und breitet sich aus alle andere“ – hat Marcuse gelernt, daß das gesamte System der weltlichen Autorität auf die Autorität des Vaters innerhalb der Familie angewiesen ist. Es gilt also zunächst, die paternalistischen Familienstrukturen, die insbesondere auf das Frühbürgertum zurückgehen, aufzubrechen, um die Menschen von den vermeintlich universellen Herrschaftsverhältnissen zu befreien. Auch der Faschismus – wie ja die Studien der Kritischen Theorie unter Adorno ergeben haben (deren methodische Unzulänglichkeiten schon früh offengelegt wurden) – sei nur über den autoritären Charakter zu erklären, der sich angeblich über patriarchalische Familienstrukturen immer wieder reproduziert.

Dieser Kampf gegen das Patriarchat ist als ganz wichtiges Element der 68er-Ideologie einzustufen, zeigt er doch, ganz im Gegensatz zur Selbsteinschätzung der 68er-Bewegung als humanitäre Emanzipationsbewegung, die reale Funktion der 68er-Bewegung für den gesellschaftlichen Wandel. Unabhängig von deren Selbsteinschätzung war es die reale Funktion dieser Befreiungsideologie, eine zentrale Transformation in den Verwertungsbedingungen und der Prozeßlogik der kapitalistischen Entwicklung herbeizuführen: weg vom produktionsorientierten Kapitalismus der Akkumulation des Kapitals, des asketischen, puritanischen Arbeitskapitalismus, wie ihn Luther und Calvin und später Max Weber mit den Tugenden der Sparsamkeit, des Fleißes, der beruflichen Hingabe beschrieben haben (mit der zentralen Rolle des Vaters, der diese Werte vermitteln mußte), hin zu einem Konsumkapitalismus, der die permissiven Werte der Selbstverwirklichung, des Hedonismus und der individuellen Bedürfnisbefriedigung für sein Funktionieren in besonderem Maße erforderlich macht.

Für den modernen Konsumkapitalismus ist nicht mehr die Produktion von Waren und die Schaffung des notwendigen Kapitalstocks das Problem, das Problem der modernen Massenproduktion ist die Verwertung und die Vermarktung. Der moderne Sozialisationstypus für diesen Konsumkapitalismus ist der seine Bedürfnisse auslebende und sie nicht unterdrückende Mensch. Die 68er haben ideologisch vorweggenommen und vollzogen, was durch die gesellschaftliche Entwicklung vorgezeichnet war. Sie waren, freilich ohne es zu wissen oder gar zu wollen, „nützliche Idioten des Kapitals“ (Marx). Sie segelten unter der Flagge der Emanzipation, waren aber nur ein ideologischer Reflex der gesellschaftlichen Selbstbewegung und Evolution vom „Industrie- zum Konsumkapitalismus“.

„Aus heutiger Sicht lag die 68er-Bewegung exakt in dem Trend, der zur Konsumgesellschaft führt“, äußerte Peter Sloterdijk vor Jahren einmal in einem Interview. „Ohne es zu ahnen, waren wir, die westdeutschen Früh-Hedonisten, die Labormäuse des totalen Konsumismus.“

Von diesen Achtundsechzigern gibt es eine vorgezeichnete Linie zu den Vertretern der Multikultur, die auch glauben, die Welt zu verbessern, indem sie die mentalen Bedingungen für die Prozeßlogik des globalisierten Kapitals aufbereiten.






Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er führt in einer Doppelspitze das Studienzentrum Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Marx’ teleologisch-eschatologisches Weltbild („Der fröhliche Dilettantismus“, JF 19/18).

Foto: Uschi Obermaier und Rainer Langhans Ende der sechziger Jahre in der Berliner „Kommune 1“: Die Achtundsechziger-Bewegung diente als mentaler Wegbereiter eines Konsumkapitalismus, der die permissiven Werte der Selbstverwirklichung, des Hedonismus und der individuellen Bedürfnisbefriedigung für sein Funktionieren benötigt