© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Türkeipolitik als Dilemma
Erdogan-Besuch: Die türkische Minderheit schränkt die deutsche Souveränität ein
Ferhad Seyder

Dem Staatsbesuch von Recep Tayyip Erdogan in Deutschland wird von vielen politischen Kräften von der Linkspartei bis zur AfD mit viel Argwohn und Ablehnung begegnet. Dabei haben diese unterschiedlichen politischen Kräfte auch unterschiedliche Motive. Der autoritäre Wandel des politischen Systems in der Türkei in den letzten Jahren ist das Hauptmotiv der Kritik. Auch wenn sich beide Seiten über die Einschätzung der AKP-Regierung und deren Präsidenten einig sind, scheiden sich die Geister bei der Frage der geeigneten Mittel gegen den selbstgefälligen und autoritären Sultan am Bosporus. 

Deutschland kann bei einigen Staaten aus historischen oder aus innenpolitischen Gründen nicht alle verfügbaren Mittel einsetzen und seine Position glaubhaft zur Geltung bringen. Während im Fall Polen und Israel historisch begründete rote Linien einen normalen zwischenstaatlichen Umgang bremsen, ist die Zurückhaltung gegenüber der Türkei vor allem innenpolitisch begründet. Daß etwa drei Millionen Türken und türkischstämmige Menschen in Deutschland auf Dauer leben, findet seinen Niederschlag in den bilateralen Beziehungen und in der Gestaltung und Konzeptualisierung der deutschen und der türkischen Außenpolitik. 

Deutschland kann – auch im europäischen Vergleich – nicht ganz frei harte Maßnahmen gegen Erdogan und seine Partei durchsetzen. Es muß stets auf die Position der großen Gruppe von Bürgern mit türkischem Migrationshintergrund Rücksicht nehmen. Auch hier zeigt sich, daß die Migration und ihre Konsequenzen bis zur Sphäre der Außenpolitik reichen. Dies ist auch dem türkischen Staatspräsidenten bewußt. Daß die türkischen Politiker ihre Wahlkämpfe auch auf deutschem Boden ausfechten und daß türkische religiöse Organisationen wie Ditib sowie politische Organisationen, einschließlich der religiös-nationalistischen Grauen Wölfe, in Deutschland agieren, demonstriert die Verwischung der Grenze zwischen den Sphären der Innen- und Außenpolitik. Der Versuch der politischen, ethnischen und religiösen türkischen Gruppen, die deutsche Türkeipolitik in ihrem Interesse zu lenken, zeigt die Aushöhlung der deutschen Souveränität in dem vitalen Feld der Außenpolitik, die Bismarck bekanntlich als Schicksal Deutschlands stilisierte. In einem Land auf dem Weg zum Vielvölkerstaat nimmt die Souveränität freilich eine andere Gestalt an – auf allen Politikfeldern ergeben sich neue wesentliche Grundlagen.

Alle diese Elemente machen souveräne Entscheidungen der Bundesrepublik Deutschland schwer durchführbar. Sanktionen gegen die innenpolitischen Entscheidungen der Türkei – abgesehen davon, daß sie völkerrechtlich schwer zu begründen sind – können aus Gründen der Rücksichtnahme auf die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland kaum umgesetzt werden. Zudem kann Deutschland auf die Partnerschaft der Türkei aus strategisch-politischen Gründen nicht verzichten. Hierzu gehört die Rolle der Türkei in der Nahostregion, die Flüchtlingsfrage und nicht zuletzt die engen wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder. Die Türkeipolitik der vorherigen und des jetzigen deutschen Außenministers, die auf einer „Viel Zuckerbrot und wenig Peitsche“-Strategie aufgebaut ist, bleibt so weiterhin relevant.

Strittig bleibt, wo die deutsche Politik mit harten Maßnahmen operieren sollte und wo Kooperation angebracht ist. Bislang hat Deutschland mit weichen diplomatischen Mitteln Journalisten mit deutschem Paß freibekommen. Bei den großen Themen, unter anderem der Rückkehr der Türkei zu autoritären Strukturen, konnte Deutschland mit bloßer Mißbilligung kaum etwas erreichen, weil die Kritik lediglich verbal war. Für den Einsatz von weichen und harten Maßnahmen braucht Deutschland eine glaubhafte Strategie, die die deutschen Interessen wirklich deutlich macht. Dazu gehört eine Vertiefung der Zusammenarbeit im Bereich der Migration. Dies setzt allerdings voraus, daß die Bundesrepublik eine realistische Einwanderungspolitik wagt. Der Türkei muß das Instrument aus der Hand genommen werden, mit der Drohung zu operieren, die Migrantenströme über die Türkei nicht zu unterbinden. Auch Hilfen auf dem Feld der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Stabilisierung der türkischen Währung sollte nicht bedingungslos zugestimmt werden. 

Schließlich sollte die Türkei ihre eigenen Probleme, etwa den Kurdenkonflikt, regeln. Immerhin tangiert diese Frage Deutschland vielfach. Hierzu gehören die Flucht der Kurden aus der Türkei und die Radikalisierung der Kurden in Deutschland. Die Türkei muß zudem aufgefordert werden, im syrischen Bürgerkrieg ihre Hilfe für die Islamisten einzustellen und ihre Truppen aus den syrischen Territorien abzuziehen. Im Zusammenhang mit dem Begehren der Türkei, die Mitgliedschaft der EU zu erlangen, sollte der Türkei klargemacht werden, daß die von Merkel angebotene privilegierte Partnerschaft die höchste Offerte darstellt, die die EU der Türkei unter den jetzigen Umständen anbieten kann. Dafür müßte sich die Türkei jedoch gegenüber dem stärksten EU-Mitglied Deutschland und gegenüber der EU insgesamt erst als kooperationsbereiter Partner verhalten.






Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder, kurdischstämmiger Politologe, lehrt nach Stationen unter anderem in Kairo, Stockholm und Berlin an der Universität Erfurt.