© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Palastrevolution in untergehendem Licht
Tritt vors Schienenbein: Erstmals seit 1973 traten zwei Kandidaten bei der Wahl zum Unionsfraktionschef an – und Merkels Mann fiel durch
Paul Rosen

Revolutionen waren die Sache der Unionsfraktion nie. Gerne wurde sie verglichen mit einem großen Tanker, der langsam seinen Kurs hält. Egal, was in den letzten 13 Jahren der Regierung Merkel (und auch vorher schon) passierte, mehr als ein nur manchmal lauteres Murren gab es selten. Daß am Nachmittag des 25. September, als der Reichstag von der untergehenden Herbstsonne in warmes Licht getaucht wurde, dort eine Palastrevolution ausbrechen würde, hatte fast niemand erwartet. Doch plötzlich ist es geschehen: Mit 125 Stimmen wurde Ralph Brinkhaus am vergangenen Dienstag zum neuen Fraktionschef gewählt, Volker Kauder bekam nur 112 Stimmen.

Viele Unionsabgeordnete fürchten um ihre Mandate

Im Unterschied zu allen anderen Bundestagsfraktionen und auch zur CSU-Landesgruppe gibt es im CDU-Teil der Fraktion eine Besonderheit: Ein Jahr nach einer Bundestagswahl sind die CDU-Mitglieder des Fraktionsvorstandes neu zu wählen, während die CSU-Kollegen im Amt bleiben. Bisher war es eine Selbstverständlichkeit, daß Volker Kauder (69) nach einer Bundestagswahl zunächst als Fraktionsvorsitzender bestätigt und nach einem Jahr für den Rest der Legislaturperiode wiedergewählt wurde – immer auf Vorschlag von Kanzlerin Angela Merkel und des jeweiligen CSU-Vorsitzenden. Seit 2005 ging das nun so, und seit 2015 war Kauder der am längsten amtierende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU aller Zeiten.

Geändert hatten sich allerdings die Wahlergebnisse. Die über 90prozentige Zustimmung aus Kauders Frühzeit war schon im vergangenen Jahr auf unter 80 Prozent geschrumpft. Jüngere konnten sich hier Chancen gegen Kauder ausrechnen, der früher einmal beliebt, in späteren Jahren wenigstens noch geachtet und zum Schluß wegen seiner halsstarrigen Art zunehmend unbeliebter wurde. Er führte sich auf wie ein Ausputzer im Auftrag des Kanzleramtes. Eine eigenständige Rolle gestand er der CDU/CSU-Fraktion in der Koalition nicht mehr zu. Offenbar hatte sich Kauder darauf verlassen, daß die Autorität der Regierungschefin, die er viele Jahre lang stützte und die seine Wiederwahl empfohlen hatte, ausreichen würde, um den Neuling Brinkhaus (der bisher stellvertretender Fraktionsvorsitzender war) auf die Plätze zu verweisen. Es reichte nicht.

Brinkhaus hat zweifellos von der Tollhaus-Stimmung in der Großen Koalition im Streit um den Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen profitiert (siehe Seite 5). Merkel zeigte sich führungsschwach, und von Kauder, dem Vorsitzenden der größten Regierungsfraktion, war zum Höhepunkt der ganzen Affäre nichts zu sehen und zu hören. Derweil stürzte die Union in den Umfragen ab; viele Abgeordnete fürchten jetzt um ihre Mandate. Die schlechter werdende Stimmung konnte Brinkhaus für sich nutzen. Der 50jährige Westfale ist zwar eher konservativ eingestellt, hat als Steuerberater gearbeitet, war bei der Bundeswehr und hat Familie. Aber er hat nie öffentlich das Wort gegen die Kanzlerin und den Regierungskurs erhoben – weder als es um die Rettung des Euro ging noch nach der Grenzöffnung 2015. Als Fraktionsvize für Steuern und Haushalt hat er sich einen guten Namen erarbeitet. Das alles machte ihn bis weit ins schwarz-grüne Lager hinein wählbar.

Die CDU/CSU-Abgeordneten sind keine dummen Jungen aus der Provinz. Sie wußten, daß sie mit dem Votum für Brinkhaus Merkel eine Niederlage, und zwar eine sehr schwere Niederlage, beibringen würden. Die Kanzlerin gab das unumwunden zu: „Das ist eine Stunde der Demokratie, in der gibt es auch Niederlagen, und da gibt es nichts zu beschönigen.“ Die Stunde der Demokratie dürfte wohl zur Folge haben, daß Merkel in Zukunft nicht mehr durchregieren kann, sondern in ihrer Fraktion um Zustimmung werben und sich kritischen Fragen wird stellen müssen.

Das Unions-Problem kann auch Brinkhaus nicht lösen

Für Merkel bedeutet die Wahl von Brinkhaus noch mehr. Bisher war neben Kauder der in der Fraktion dominierende nordrhein-westfälische Block der Abgeordneten ihre größte Stütze. Als Politikerin aus dem kleinen Mecklenburg-Vorpommern verschaffte ihr das enormen Rückhalt. Brinkhaus hat ihr gezeigt, daß es mit der Hausmacht NRW vorbei ist. Zusammen mit Abgeordneten aus Bayern und Hessen, die vor drastischen Wahlniederlagen stehen, war die Mehrheit gegen Kauder da.

Das eigentliche Problem der Union kann aber auch Brinkhaus nicht lösen. Bleibt Merkel im Kanzleramt, gehen auch die Wahlen zum Europaparlament 2019 verloren. Die AfD könnte bei den folgenden Landtagswahlen erstmals in einem Land stärkste Partei werden. Diese schlechten Aussichten sprechen dafür, daß die Wahl von Brinkhaus kein einmaliger Unfall gewesen ist, sondern der Beginn einer Zeitenwende.

Als die Sonne hinter dem Reichstag verschwunden war, brach die Dämmerung an. Kanzlerinnendämmerung.