© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Eiskalte Rentenbürokratie
Erwerbsunfähigkeit: Hohes Armutsrisiko, wenn es Körper und Geist nicht mehr schaffen
Carsten Müller

Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas. Nach China (2,16 Billionen Dollar) und den USA (1,58 Billionen Dollar) liegt die deutsche Wirtschaft mit umgerehnet 1,4 Billionen Dollar auf Rang drei der weltgrößten Exporteure. Und bei der Leistungsbilanz ist Deutschland mit 287 Milliarden Dollar vor Japan (Überschuß: 203 Milliarden Dollar) sogar Weltmeister. Geht es um die Rente nach einem Arbeitsleben von 40 Jahren und mehr, gehört Deutschland mit 48 Prozent des Nettoeinkommens zu den europäischen Schlußlichtern.

Wirtschaft und Politik argumentieren dennoch, daß der Spielraum für höhere Renten – bis auf die jährlichen Anpassungen an die Lohnentwicklung – nicht vorhanden sei. Noch stärker trifft es allerdings diejenigen, bei denen die Kraft nicht mehr ausreicht, selbst für ihren Lebenserwerb zu arbeiten und die auf eine Erwerbsminderungsrente angewiesen sind. Und je weiter sie von der regulären Altersrente (die inzwischen bei 67 Jahre liegt) entfernt sind, desto dramatischer wird es.

Nur noch ein Drittel oder ein Viertel des Einkommens

Im schlimmsten Fall kann plötzlich nur noch ein Drittel oder gar ein Viertel des einstigen Einkommens zum Leben zur Verfügung stehen. Der finanzielle Absturz ist vorprogrammiert. Kein Wunder, daß viele dieser 1,4 Millionen Frührentner „Grundsicherung bei Erwerbsminderung“ (Rentner-Hartz-IV) beantragen müssen – wenn sie zuvor ihre Ersparnisse (bis auf ein Schonvermögen von 5.000 Euro) aufgebraucht haben. „Als Faustregel gilt: Wenn Ihr gesamtes monatliches Einkommen durchschnittlich unter 838 Euro liegt, sollten Sie prüfen lassen, ob Sie Anspruch auf Grundsicherung haben“, empfiehlt die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV).

Hinzu kommt: Bevor es überhaupt eine Zahlung gibt, steht ein wahrer Hindernislauf durch die deutsche Rentenbürokratie bevor. Im Mittelpunkt steht dabei nicht der von Unfall, Lähmung, Herzinfarkt, Schlaganfall oder psychischen Leiden Betroffene, sondern nur die Frage, ob irgendwie noch Arbeitskraft aus ihm herausgeholt werden kann. „Reha vor Rente“ – diesem Credo ordnet sich das Zusammenspiel zwischen Rentenversicherer, Arbeitsagentur und medizinischen Gutachtern unter. Dabei wird regelmäßig nach Aktenlage entschieden, eine Anhörung der Betroffenen findet nicht statt. Ein Kritikpunkt, der sich auch in einer aktuellen Studie niederschlägt, die von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung initiiert wurde. Die Autoren bemängeln hier die undurchsichtigen bürokratischen Verfahren, denen die meisten Betroffenen ohne ausreichende Beratung gegenüberstehen. Außerdem wird angeregt, zu früheren Definitionen von Erwerbsunfähigkeit ansatzweise wieder zurückzukehren.

Ein Thema, das schon bei der letzten Reform vor knapp 20 Jahren eine Rolle spielte. Damals entschied sich die Schröder-Regierung für einen Paradigmenwechsel, der letztlich die Ausgangslage der Betroffenen nachhaltig verschlechterte. Nunmehr wird nur noch darauf abgestellt, wie viele Stunden am Tag jemand in der Lage ist zu arbeiten. Frühere Tätigkeiten und Qualifikationen, erst recht Arbeitseinkommen, spielen keine Rolle mehr. Eine Entscheidung, die praxisfremd ist: Es warten keine Bürojobs auf abgearbeitete Dachdecker.

Ein erneutes Umdenken scheint dringend notwendig. Denn in absehbarer Zukunft wird die Erwerbsminderungsrente wieder eine größere Rolle spielen. In den vergangenen 50 Jahren spielte dieser GRV-Zweig eine abnehmende Rolle. 1962 waren noch fast zwei Drittel aller Rentenbescheide eine Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente – nach den Kriegsjahren und den Strapazen des Wiederaufbaus keine Überraschung.

Bis 2015 sank die Quote kontinuierlich bis auf 17 Prozent Anteil bei den Neurenten. Doch seitdem kündigt sich eine Trendwende an. 2016 waren es bereits wieder 18,2 Prozent, und es ist davon auszugehen, daß inzwischen wieder jede fünfte Rente eine Erwerbsminderungsrente ist. Dabei sind es nur die restriktiven Vorgaben, die diesen Prozentsatz noch relativ moderat erscheinen lassen: Aktuell werden nur 40 Prozent aller Anträge positiv beschieden.

Kein Wunder, daß die politischen Akteure inzwischen die Verbesserung Erwerbsminderungsrente als neues Spielfeld entdeckt haben. So hatte erst kürzlich die Bundesregierung beschlossen, daß die Zurechnungszeiten, mit denen eine abschlagsfreie Rente ermöglicht werden soll, schneller nach oben angepaßt werden. 2016 lag der Rentenhöhe im Schnitt nur bei 756 Euro.

Bis 2024 soll das bislang vorgesehene Alter für Zurechnungszeiten von 62 Jahren und drei Monaten auf 65 Jahre und acht Monate angehoben werden. Danach soll es schrittweise bis auf die Regelaltersgrenze von 67 Jahren gehen. Für die Erwerbsminderungsrentner ab 2024 bedeutet dies, daß sie durchschnittlich mit 62 Euro pro Monat brutto mehr rechnen könnten. In den Jahren bis dahin geht es um entsprechend weniger.

Private Versicherungen mit vielen Haken und Ösen

Angesichts der hohen Ablehnungsquote, den unrealistischen Erwartungen bezüglich neuer Arbeitsaufnahmen und dem generell hohen Risiko, bei den niedrigen Rentenquoten schnell auf Hartz-IV-Niveau abzurutschen, scheint es vernünftig, privat vorzusorgen. Allerdings weisen private Berufsunfähigkeitsversicherungen (BUV) noch mehr Haken und Ösen auf (JF 38/15). Die Vergleichbarkeit der Angebote ist oftmals fast nur Fachleuten möglich.

Die Versicherer nutzen jede Möglichkeit, um am Ende aus ihrer Verpflichtung zu kommen. Besonders bei den Gesundheitsfragen lauern viele Fallen, die nach Jahrzehnten zu Leistungsausschlüssen führen können. Dennoch: Gerade junge Beschäftigte sollten sich mit diesem Thema beschäftigen. Denn mit einer wesentlichen Verbesserung der GRV-Absicherung ist nicht zu rechnen.

Studie „Zugangssteuerung in Erwerbsminderungsrenten“ der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung (377/18): boeckler.de

Infos zur Erwerbsminderungsrente: www.deutsche-rentenversicherung.de