© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Von Schwermut gequält
Vibrationen eines Morphiumsüchtigen: Die Staatsgalerie Stuttgart präsentiert zum 80. Todestag Werke Ernst Ludwig Kirchners
Felix Dirsch

Manchmal erweist sich der Hintergrund einer Ausstellung als mysteriös. Er muß erst mühsam rekonstruiert werden, damit die Präsentation überhaupt stattfinden kann. Der „Fall“ Kirchner ist ein besonderes Lehrstück. Angesichts der Überfülle an Artefakten, die der Künstler hinterlassen hat (rund 10.000 Zeichnungen, Aquarelle und Pastelle, 12.000 Skizzenbuchblätter, 2200 Druckgraphiken und 1.200 Gemälde), erstaunt es nicht, daß selbst Experten Schwierigkeiten haben, den Überblick zu behalten. 

Kirchner hatte 1938 Suizid begangen und konnte keine Antwort mehr auf Fragen nach dem Verbleib etlicher Werke geben. Als Mitarbeiter der Staatsgalerie Stuttgart bald nach 1945 begannen, Exponate Kirchners, der im Nationalsozialismus als „entartet“ verfemt worden war, erneut zu erwerben, erwies sich dieses Unterfangen als problematisch. Man mußte Rücksicht nehmen auf Kollektionen, die den Eigentümern, insbesondere Juden, auf rechtswidrige Weise enteignet worden waren. Heute regeln die Washingtoner Prinzipien von 1998 den Umgang mit solchen Fällen und empfehlen „gerechte und faire“ Lösungen. Bereits vorher galt indessen das Gebot, Sensibilität in solchen Situationen walten zu lassen.

Kirchners Pastell „Rote Kokotte“ gelangte zusammen mit der „Sammlung Dr. Gervais Zürich/Lyon“, die 77 Zeichnungen und 66 Druckgraphiken umfaßt, 1957 in den Besitz der Staatsgalerie. Eine nicht mehr ganz aufzuhellende Schlüsselrolle dabei spielte der Maler Christian Anton Laely (1913–1992). Mit seinem Lehrer und Förderer Kirchner hatte er bis zu dessen Tod enge Verbindungen gepflegt. Heute kann man davon ausgehen, daß Laely die Bestände der ominösen Sammlung – den Namen „Dr. Gervais“ hat er wohl erfunden – von seinem Vertrauten selbst und dessen Lebensgefährtin Erna Schilling bekommen hat, sie aber aufgrund der Schweizer Veräußerungssperre von 1945 nicht nach Deutschland ausführen konnte. So suchte er nach Möglichkeiten, wie die Transferierung doch gelingen könne. Zunächst wurden die Zeichnungen und Graphiken an geheimen Orten gelagert, später in die Bundesrepublik ausgeführt und von der Staatsgalerie erworben. Einige Exponate landeten auch bei der Galerie Stangl in München.

Kircher will sich von allen Fesseln befreien

Mit diesen Hintergründen wird der Besucher der Ausstellung über den unbekannten Kirchner konfrontiert. Der Bestand „Dr. Gervais“ wird zusammen mit einer Reihe weiterer Werke aus dem eigenen Depot einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Auffallend ist das Spektrum an Sujets: Großstadt, Tanz, Landschaften auf Fehmarn, die Alpen und andere. Eindrucksvoll sind viele expressionistisch anmutende Motive des Mitglieds der eher kurzzeitigen Künstlergruppe „Brücke“. Sie spiegeln die Verfassung des Künstlers wider, der explizit kein Expressionist sein wollte: Von Schwermut, Lebensüberdruß und Depressionen über viele Jahre hinweg gequält, geben nicht wenige der Sujets Auskunft über den Seelenzustand des zutiefst Furchtsamen. Die Nationalsozialisten näherten sich 1938, nach dem Anschluß Österreichs, bedrohlich Kirchners Wahlheimat, der Gegend unweit von Davos. Die Ängste des Morphiumsüchtigen wurden dadurch noch vergrößert. Den wohl schon länger gehegten Selbstmordplan setzte er nunmehr um.

Auf den Bildern, die in der Ausstellung zu sehen sind, erkennt man häufig Menschen, die sich bewegen, tanzen, nackt baden, fröhlich sind, feiern, sich von gesellschaftlichen Konventionen lösen. Der von der Zivilisation unverdorbene Mensch kommt gelegentlich zum Vorschein, das Ideal aller nach Authentizität Suchenden. Kirchner muß nicht in die Ferne abschweifen, sondern braucht lediglich einen Blick auf seine Umgebung zu werfen: Bauern stehen ihm näher als Stadtmenschen. Dem Natürlichen kommt Priorität zu.

Kirchner zielte auf Fortschritte im Zusammenleben: „Wollt ihr vorwärts oder rückwärts. Rückwärts strebt ihr abwärts“, so seine Devise. Man kann in seinen Darstellungen fieberhafte Vibrationen spüren, die ihn gepackt haben. Er will sich von allen Fesseln befreien. Jedoch fragen manche, ob er diesbezüglich nicht mitunter übers Ziel hinausgeschossen ist. In Zeichnungen, so notiert er, liege die Seele offen. Die Probe aufs Exempel folgt sogleich: Wenn ein Mädchen (wahrscheinlich eine Anspielung auf sein Modell Fränzi) spielerisch auf einem nackten Mann reitet, so sind wohl erotische Phantasien mit ihm durchgegangen. War der Künstler pädophil? Heute ist man beim Anblick solcher Bilder sensibler als zur Zeit der Anfertigung; somit konnte eine Kontroverse darüber kaum ausbleiben.

Jedenfalls ist schön zu sehen, in welcher Phase seiner Entwicklung sich Kirchner befunden hat: Von den ornamentalen Linien des Jugendstils löst er sich zunehmend und findet zu expressiven Körpern mit scharfen Kanten. Bewundernswert ist sein virtuoser Umgang mit Zeichenmaterialien: Bleistift, Kohle, Feder, Tuschpinsel, Pastellstifte sowie Aquarellfarben. Für den Sohn eines Professors für Papierwissenschaften stellten Graphiken und Zeichnungen den Schwerpunkt seines Œuvres dar.

Am Ende des Rundganges erhält der Besucher mittels eines ursprünglich vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlten Filmes einen fundierten Einblick in die Biographie des „unruhigen Lebenssuchers“. Die Präsentation offenbart einen Künstler, dessen Motive auch achtzig Jahre nach seinem Tod noch so erfrischend wirken wie in seiner Zeit. 

Die Kirchner-Ausstellung ist bis zum 21. Oktober in der Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Str. 30-32, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen.  www.staatsgalerie.de