© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Letztmalig im Zeichen der Diplomatie
Vor achtzig Jahren wurde auf der Münchner Konferenz die Abtretung des Sudetenlandes von der Tschechoslowakei geregelt
Gerd Schultze-Rhonhof

Am 29. und 30. September 1938 wurde das Münchner Abkommen geschlossen, mit dem die mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Randgebiete der Tschechoslowakei (CSR) und deren Bewohner an Deutschland übergeben wurden.

Das Abkommen hatte eine lange Vorgeschichte. Schon bei der Gründung der CSR 1918 und 1919 pflanzten die Tschechen ihrem neuen Staat den Samen für den späteren Zerfall ein. Auslands-tschechen in den USA schlossen 1918 Verträge mit Exilslowaken und Exilruthenen (Karpato-Ukrainern) über die Gründung eines gemeinsamen Staats; Verträge, in denen Slowaken und Ruthenen ihre weitgehende Autonomie mit eigenen Landesparlamenten, Landessprachen, Schulen und Verwaltungen zugesagt wurde. Kaum war die Gründung der CSR 1919 vollzogen, erkannten die Tschechen die Verträge nicht mehr an.

Prag mißachtete zugesagte Minderheitenrechte 

Die Tschechen trugen den Siegern auf der Konferenz von St. Germain wahrheitswidrig vor, die Sudetendeutschen in Böhmen besäßen kein zusammenhängendes Siedlungsgebiet. Ihnen fehlten damit die Voraussetzungen für Eigenstaatlichkeit und Selbstverwaltung. Zu den Slowaken behaupteten sie, Slowaken wären eigentlich Tschechen und Slowakisch wäre nur ein tschechischer Dialekt. So kreierten die Tschechen in St. Germain die Fiktion von einer tschechoslowakischen Nation, wobei die slowakische Delegation gezielt ausgebootet wurde. 

Die zuerst dort angereisten Tschechen veranlaßten die gastgebenden Franzosen, die Slowaken sofort auszuweisen. Als diese zurück in Preßburg aus dem Flieger stiegen, stand dort, auf slowakischem Territorium, schon tschechische Polizei, verhaftete die slowakische Delegation, entführte sie in die Tschechei und steckte sie hinter Schloß und Riegel. So setzten die Tschechen ihren Alleinvertretungsanspruch auf der „Friedenskonferenz“ in St. Germain durch. Dabei versprach die tschechische Delegation den Siegermächten, eine CSR nach dem Vorbild der Schweiz zu schaffen mit gleichberechtigten Völkern und nationalen Kantonen. Die Sieger vertrauten guten Glaubens auf die tschechischen Versprechen.

Im Jahrzehnt danach schufen sich die Tschechen einen Staat mit der Bevorzugung von Tschechen im öffentlichen Dienst, bei der Vergabe von Staatsaufträgen und sozialen Leistungen, mit Massenentlassungen von deutschen und ungarischen Staatsbediensteten, selbst in deren Sprachgebieten und ohne anwendbare Minderheitenrechte für die Sudetendeutschen, Slowaken, Ungarn und Ruthenen. Es gab zudem abgestufte Wahlchancen für die diversen Minderheiten. So genügten durchschnittlich 38.000 Tschechen in einem tschechisch bewohnten Wahlkreis für einen Sitz im Parlament, während erst 110.000 ungarische Wähler in einem ungarisch bewohnten Wahlkreis für einen Parlamentssitz reichten. Den Slowaken wurde ihre vertraglich zugesagte Autonomie verweigert. Noch 1929 wanderte der spätere Präsident der Slowakei Vojtech Tuka für fünf Jahre ins Gefängnis, weil er öffentlich die einst verbriefte Autonomie für die Slowaken eingefordert hatte.

Je länger die Tschechen ihren neuen Staat beherrschten, desto deutlicher gärte die Unzufriedenheit der Minderheiten in der CSR. Mitte der dreißiger Jahre drängten die Slowaken, Sudetendeutschen, Polen und Ungarn auf ihre Loslösung von dem ungeliebten Staat.

1937 unternahmen sowohl die Sudetendeutsche Partei SDP als auch die Slowakische Volkspartei SVP vergebliche Anläufe, ihre nationalen Minderheiten mit Minderheitenrechten auszustatten. Als das erfolglos blieb, forderte Konrad Henlein, Sprecher der SDP, Staatspräsident Edvard Beneš auf, den Sudetendeutschen einen autonomen Status innerhalb der CSR einzuräumen. Auch das blieb ohne Antwort. Erst 1938 schaltete sich Hitler in diesen Streit ein. Er forderte in einer öffentlichen Rede das Selbstbestimmungsrecht für die Auslandsdeutschen und erklärte, daß es zu den Interessen des Deutschen Reichs gehöre, auch den Schutz der Deutschen wahrzunehmen, die dazu nicht selbst in der Lage wären.

Der englische Premierminister Neville Chamberlain durchschaute Hitlers Absicht, das sudetendeutsche Problem zu nutzen, um die CSR zu zerschlagen. Er reiste deshalb dreimal zu Hitler, um zwischen Berlin und Prag zu vermitteln, und er entsandte einen Sonderbotschafter, Lord Walter Runciman, in die CSR, um die Lage dort zu eruieren. Der Lord erstattete im September Bericht nach London. Der Report fiel vernichtend für die Tschechen aus. Er schrieb unter anderem: „Mein Eindruck ist, daß die tschechische Verwaltung im Sudetengebiet, wenn sie auch in den letzten Jahren (...) gewiß nicht terroristisch war, dennoch einen solchen Mangel an Takt und Verständnis und so viel kleinliche Intoleranz und Diskriminierung an den Tag legte, daß sich die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung unvermeidlich zur Auflehnung fortentwickeln mußte.“ Runciman schloß mit der Empfehlung, die Grenzbezirke mit „bedeutender deutscher Bevölkerungsmehrheit“ unverzüglich von der Tschechoslowakei zu trennen und an Deutschland anzugliedern. 

Premierminister Chamberlain war danach gewillt, Hitlers Wünschen weit entgegenzukommen. Er reiste nach Berchtesgaden. Hitler forderte nun die Angliederung der Sudetenlande an das Deutsche Reich. Chamberlain flog zurück nach London und empfing dort sofort den französischen Ministerpräsidenten Édouard Daladier. Chamberlain und Daladier einigten sich darauf, die Tschechen aufzufordern, die Landesteile mit über 50 Prozent sudetendeutscher Bevölkerung ohne Volksabstimmung an Deutschland abzutreten.

Am 19. September wurde Präsident Beneš die britisch-französische Forderung übergeben. Nach langem Hin und Her aus Prag folgte aus London der Bescheid: „Indem die tschechoslowakische Regierung den britisch-französischen Vorschlag ablehnt, übernimmt sie die Verantwortung, daß sich Deutschland entschließt, zu den Waffen zu greifen.“ Am 21. September, eine Woche vor der Konferenz von München, übermittelte die tschechoslowakischen Regierung ihre endgültige Entscheidung. Sie lautete: „Der englisch-französische Plan zur Abtretung der mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Gebiete wird mit dem Gefühl des Schmerzes akzeptiert.“ Mit dieser Abtretungserklärung hätte die sudetendeutsche Frage eigentlich abgeschlossen werden können. Doch es kam anders.

Hitler schob zwei neue Forderungen nach. Chamberlain war erbost, und die Regierung der CSR ging darauf nicht ein. In dieser verfahrenen Situation riet der italienische Diktator Benito Mussolini Hitler, daß der tschechisch-deutsche Streit in einer Konferenz mit den Regierungschefs Englands, Frankreichs, Italiens und Deutschlands geregelt werden sollte. So kam es am 29. und 30. September 1938 zur berühmten Konferenz in München. Die vier Regierungschefs einigten sich darauf, daß vier kleinere sudetendeutsche Gebiete mit eindeutiger deutscher Mehrheit sofort von deutschen Truppen besetzt und an Deutschland übergeben werden sollten, und daß ein internationaler Ausschuß aus Tschechen, Deutschen, Italienern, Franzosen und Engländern die weiteren abzutretenden Gebiete festlegen sollte. 

Hitler brach das bilaterale Konsultationsabkommen

Das Abkommen bestand aus acht Punkten, die im wesentlichen zu deutschem Vorteil waren. Sie regelten die Übergabe der Gebiete an Deutschland, die Einrichtung des Internationalen Ausschusses, das Optionsrecht für Deutsche und Tschechen im jeweils anderen Staat und anderes mehr. Die Präambel des Abkommens lautete: „Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebiets bereits grundsätzlich erzielt wurde, über folgende Bedingungen und Modalitäten dieser Abtretung und über die danach zu ergreifenden Maßnahmen übereingekommen.“ Damit wurde ausgedrückt, daß die Abtretung nicht in München, sondern im Grundsatz schon zuvor entschieden worden war. Die Formulierung bezog sich ausdrücklich auf die „Prager Abtretung“ vom 21. September 1938. 

Punkt 2 des Abkommens lautete: „Das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien vereinbaren, daß die Räumung des Gebiets bis zum 10. Oktober vollzogen wird.“ Hier war Deutschland nicht erwähnt, und das hatte seinen Grund. Nur die drei Siegermächte des Ersten Weltkriegs vereinbarten die Räumung der Sudetenlande mit der CSR, weil nur sie es waren, die den Tschechen die Rechte an den deutschen Gebieten wieder aberkennen konnten, die sie ihnen 1919 unter falschen Voraussetzungen zugesprochen hatten. Beneš hatte ihnen 1918 falsche Angaben zu dem Bevölkerungsanteil der Deutschen und zu ihren Siedlungsflächen vorgelegt und zudem versprochen, die nationalen Minderheiten nach Art der Schweiz an ihrem neuen Staate zu beteiligen. 

Doch das Abkommen enthielt neben den acht Punkten, die auch Hitler später eingehalten hat, drei Zusatznoten. Die erste verpflichtete die vier Unterzeichnerstaaten, später die territoriale Unversehrtheit der CSR zu garantieren. Doch keiner der vier Unterzeichner gab die Garantie ab. Die Regierungen in Rom, Berlin und London waren nun der Auffassung, daß man die äußeren Grenzen eines Staats, der von innen her zerfällt, nicht von außen garantieren sollte. 

Etwas ganz anderes war Hitlers Wortbruch gegenüber Chamberlain. Beide schlossen – noch in München – ein bilaterales Konsultationsabkommen, das Hitler sechs Monate danach mit dem Alleingang der Besetzung der Tschechei brach. Dieser Wort- und Vertragsbruch Hitlers war von weltgeschichtlicher Bedeutung. Mit diesem Vertragsbruch schlug Hitler selbst die Tür für eine spätere und mit den Engländern einvernehmlich zu treffende Regelung der deutsch-polnischen Probleme, insbesondere in der Danzig-Frage, zu. Das diplomatische Blatt war damit ausgereizt, alles weitere würde in militärische Gewalt münden müssen.






Gerd Schultze-Rhonhof ist Generalmajor a.D. und Autor der Sachbuch-Bestseller „1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte“ (2003) und „Das tschechisch-deutsche Drama 1918–1939“ (2008).