© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/18 / 05. Oktober 2018

Grüße aus Brüssel
Wahl und Wahnsinn
Albrecht Rothacher

Am 14. Oktober sind in Belgien Kommunalwahlen. Als EU-Ausländer bin ich in der Gemeinde Woluwe-Saint-Pierre, der nordöstlichen Vorstadt Brüssels, wahlberechtigt. Sogar wahlverpflichtet, obwohl nichts passiert, wenn man seiner Wahlpflicht nicht nachkommt. 

Es kommt selten vor, daß ich vor einer Wahl keine Ahnung habe, wen ich wählen soll. Jenes Bürgerviertel mit seinen 40.000 Einwohnern ist ruhig, friedlich, halbwegs sauber. Die Müllabfuhr kommt pünktlich. Und wenn man sich bei einem Schöffen über eine kaputte Straßenlaterne beschwert, ist sie binnen zwei Wochen repariert. Immigranten können sich den Wohnraum nicht leisten – im Gegensatz zu den verlotterten Problemvorstädten im Norden und Westen, wie Schaerbeek, St. Josse, Anderlecht, dem Kongolesenviertel Matonga oder der Salafistenhochburg Molenbeek. 

Ursprünglich war das frankophone Woluwe-St.Pierre fest in rechtsliberaler Hand.

Ursprünglich war das mehrheitlich frankophone Woluwe-Saint-Pierre fest in rechtsliberaler Hand. Man war stolz, die niedrigsten Steuern unter den 19 selbständigen Gemeinden Brüssels zu erheben. Doch vor einem Jahrzehnt wurde der Bürgermeister von einem politischen Gerichtshof seines Amtes enthoben. Er hatte 3.000 Euro zuviel für die Wahlwerbung ausgegeben und in der Gemeindezeitung zu oft für sich selbst geworben. 

In den Diadochenkämpfen spalteten sich die Liberalen, und ein Christdemokrat – die sich hier „Demokratisch-humanistisches Zentrum“ (CdH) nennen – wurde Bürgermeister in einer Allparteienkoalition ohne die Restliberalen. Er gibt sich überparteilich und tritt mit einer offenen „Liste des Bürgermeisters“ an. Auf ihr stehen auch eine Griechin, ein Franzose und ein Italiener, die die Stimmen jener 30 Prozent nichtbelgischen EU-Bürger locken sollen, die jedoch kaum wählen gehen. Auch die oppositionellen Restliberalen, die sich „Mouvement reformateur“ (MR) nennen, haben eine offene Liste. Dann gibt es die chancenlosen Sozialisten, die sich mehrheitlich aus nichteuropäischen Ausländern rekrutieren, und die Linksgrünen, die in ihrem Wahlkampf frustriert, weil unbemerkt, öffentlich Straßenmüll sammeln gehen.

Täglich ist der Briefkasten voll Wahlwerbung, auch von Einzelkämpfern, die um Vorzugsstimmen buhlen. Manchmal ist sie sogar auch auf deutsch. So will ein Nachbar etwas gegen die Füchse tun, die sich, ohne großen Schaden anzurichten, immer mehr verbreiten. Meine Stimme bekommt er nicht.