© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/18 / 05. Oktober 2018

Pankraz,
Gert Scobel und die psychische Gewalt

Zu einem wahren Horrortrip geriet die am vorletzten Donnerstag bei 3sat ausgestrahlte Wissenschaftssendung „Scobel“. Die von Gert Scobel geleitete und nach ihm benannte Serie beschäftigte sich da mit Fragen der Erziehung, speziell der Kindererziehung; sie trug den Titel „Psychische Gewalt“, und tatsächlich: Der Zuschauer mußte den Eindruck gewinnen, als bestünde die Erziehung hierzulande aus nichts anderem als roher Gewalt gegen zarte Kinderseelen, als ginge es einzig darum, den Eigenwillen der Kinder gewaltsam zu brechen.

 Scobel und die drei von ihm eingeladenen wissenschaftlichen Experten behaupteten schlichtweg, die von ihnen so genannte „psychische Gewalt“ sei lediglich ein Teil der Gewalt an sich, sie sei im Grunde noch schlimmer als körperliche Gewalt, Ohrfeigen, Stockschläge, denn diese hinterließen lediglich momentane äußere Schmerzen, während sich die Folgen psychischer Gewalt tief in die Seele eingrüben und schlimmstenfalls lebenslange traumatische Verhängnisse verursachten. 

Worin psychische Gewalt sich nun konkret äußert – darüber gab die „Scobel“-Runde leider keine haltbare Auskunft.  Man sprach über dies und das. Wenn die Lehrer in der Schule einen widerspenstigen Schüler zeitweise aus der Klassengemeinschaft ausschließen, ihn zum Beispiel in die Ecke stellen, so sei das, hieß es, typische psychische Gewalt. Wenn die Eltern ihren Zögling allzu laut anraunzten und ihm jegliche Mitsprachefähigkeit absprächen, so sei das ebenfalls psychische Gewalt. Wie laut und überheblich die Eltern auf ihr Kind einreden dürfen – darüber erfuhr man nichts.


Letztlich gewann man den Eindruck, als ginge es bei der Sendung nur um eines, nämlich darum, dem Zuschauer vor Augen zu führen, wie dämlich respektive unmenschlich Eltern wie Leher hierzulande immer noch seien. Es dominiere, konnte man vernehmen, immer noch die „schwarze Pädagogik“ des Befehlens und Drohens, und wo komme diese her? Von den Nazis und den Faschisten natürlich, die schon im Jahre 1934  zwei Bände zur Feier „Schwarzer Pädagogik“ auf den Markt geworfen hätten.

Wie gesagt, horrorhaltiger geht’s nicht mehr. Ob nun aber schwarz oder bunt, auch Wissenschaftssendungen im Fernsehen sollten primär um die Herausarbeitung von Realitäten bemüht sein. Die Darstellung innerfamiliärer psychischer Gewalt bei „Scobel“ indessen war derart weit von jeglicher Realität entfernt, daß man sich ernsthaft fragen muß, wo die Darsteller eigentlich leben. Schon das von ihnen aufgebaute Familienbild mit dem störrischen Kleinkind, das auf seinen eigenen Ansichten  beharrt und von den Eltern niedergebrüllt wird, hat nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Kleinkinder sind zunächst einmal, und zwar eine ganze Weile lang, reine Lernmaschinen, sie saugen die Welt buchstäblich in sich hinein und nehmen dabei ohne den geringsten Widerspruch die Eltern als Vorbild. Sie ahmen nach, und ihre Begeisterung beim Nachahmen, auch beim Aufnehmen von Grundregeln und Grundmeinungen, kennt dabei kaum Grenzen. Und die Eltern ihrerseits, jedenfalls deren übergroße Mehrheit, umgeben sie dabei nicht mit dem Vorzeigen von psychischer Gewalt, sondern mit Liebe und Zärtlichkeit.

Die Wurzeln, die da gelegt werden, sind so offensichtlich, daß selbst die Gäste bei „Scobel“ nicht daran rütteln wollten. Eine von ihnen, eine scharf linke universitäre Erziehungswissenschaftlerin, wurde wie nebenbei vom Gastgeber gefragt, was sie denn von den führenden Figuren der 68er halte, deren Ideal doch die Abschaffung jeder Art von Erziehung gewesen sei. Nach einigem Zögern anwortete sie: Die Tatsache des Erzogenwerdens durch Eltern und Lehrer und die Kraft der sie umgebenden Umstände sei so groß, daß jeder Versuch, pauschal dagegen anzugehen, zum Scheitern verurteilt sei.


Überhaupt nicht thematisiert wurde in der Sendung der Umstand, daß der Grad von psychischer Gewalt bei der Erziehung um so mehr steigt, je elitärer und anspruchsvoller die Vorstellung einer bestimmten sozialen oder theologischen Formation von „guter  Erziehung“ ist. Seit Urzeiten gilt bei faktisch allen auffällig gewordenen Völkern: Je höher der soziale und geistige Rang einer Formation, um so strenger und zwanghafter die Erziehung des Nachwuchses, zumindest des männlichen.

Die Kinder wurden den Müttern ab einem gewissen Alter oft gewaltsam weggenommen, um sie liebender Umhegung zu entziehen, sie „abzuhärten“, sie gegenüber Schmerzen, körperlichen wie geistigen, unempfindlich zu machen. Klöster nahmen sie auf, in denen sie neben dem Beten härteste, vielstündige Feldarbeit verrichten mußten (ora et labora). In der Neuzeit wurden die Klöster dann durch eigens für den Nachwuchs der Eliten geschaffene Erziehungsanstalten ersetzt, aber die Bräuche, die dort walteten, ließen an Härte und Strenge nicht im geringsten nach. Die englische Literatur etwa ist voll mit Geschichten darüber.

Keiner der oft sehr bedeutenden – und auch berühmten – Autoren spricht freilich, soweit Pankraz zu wissen glaubt, von einer speziellen „psychischen Gewalt“, die ihm angetan worden sei und in schlimme, unheilbare Ttraumata gestürzt habe; geklagt wird nur, wenn überhaupt, über gewisse Formen  körperlicher Gewalt, die früher in gewissen Erziehungsheimen üblich waren. Solche Formen „roher Gewalt“ seien doch völlig überflüssig gewesen. Die angestellten Prügelknaben von damls  seien übrigens alle „aus den Unterklassen“ gekommen!

Darüber kann man sich streiten. Die Wiener Individualpsychologie (Alfred Adler, Manès Sperber u. a.) hat interesssanterweise schon vor hundert Jahren darauf hingewiesen, daß am Ursprung roher Gewalt stets ein eklatanter Minderwertigkeitskomplex der Exekutoren zu konstatieren sei. Sperber hat danach eine komplette Strategie entwickelt, mit der sich derlei Komplexe behutsam auflösen ließen. Bei „Scobel“ hätte man gern etwas darüber gehört.