© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/18 / 05. Oktober 2018

Geistige Trennlinien
Entfremdung in Deutschland und Europa: Im Osten herrscht zunehmend die Meinung vor, daß der Westen sich in den Modus der Selbstzerstörung begeben hat
Thorsten Hinz

Das Motto des 52. Deutschen Historikertages, der vorigen Freitag nach drei Tagen in Münster zu Ende ging, lautete: „Gespaltene Gesellschaften“. Die Rede war von „politischen und sozialen Zerreißproben“, von Ungleichheiten, religiös grundierten Auseinandersetzungen und „neuen Formen des Nationalismus, der auf eine zunehmende Globalisierung“ reagiere.

Nun war nichts in den politisch bewegten Jahren 1989/90 für die Staaten des kollabierten Ostens so sicher wie das Vorbild des Westens: Der nach über vierzig Jahren Sozialismus darniederliegende Osten wünschte sich nichts sehnlicher, als zum blühenden Westen aufzuschließen und zu werden wie er. In den osteuropäischen Ländern kursierte die Losung von der „Heimkehr nach Europa“, in der DDR wurde „Deutschland einig Vaterland“ skandiert. Natürlich waren sie stets Teil Deutschlands beziehungsweise Europas geblieben. Gemeint war die Befreiung aus dem Gefängnis des sowjetischen Imperiums, die ganz Deutschland und Europa für seine Insassen wieder erleb- und erfahrbar machte. Die Namen standen synonymisch für die Rückkehr in einen politischen und geistigen Normalzustand.

Diese Normalität ist nicht zu verwechseln mit den Freiheits- und Wohlstandsillusionen, die es ebenfalls zuhauf gab. Die Entfremdung war in West wie Ost gleichermaßen ein gesellschaftlicher Zustand. Der Mensch, der sich die Natur aneignet, schafft materielle, kulturelle, institutionelle Bedingungen, die einerseits sein Leben absichern, erleichtern, verbessern, ihn andererseits aber auch fremdbestimmen – entfremden. Im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen kann sich Freiheit entfalten. Die Freiheitsmöglichkeit war dem Osten durch eine zweite, ideologisch motivierte Entfremdung versagt. Sie manifestierte sich im vormundschaftlichen Staat, der alles Handeln auf ein utopisches Ziel – die klassenlose Gesellschaft – hin ausrichten wollte und als Überwacher und Bestrafer auftrat. Diese zweite Entfremdung durch die konkrete Unfreiheit der Diktatur wurde nun abgestreift.

Es galt, durch nachholende Modernisierung zum Westniveau aufzuschließen: in Wirtschaft, Politik, im Kultur- und Geistesleben. Der beherzte Zugriff auf das westliche Inventar war Ausdruck akuter Not, des raschen Änderungsbedarf und eines Überdrusses an neuen Experimenten, aber auch eines objektiven Machtgefälles. Der Westen war nun mal der reiche und wohltätige, der Osten der arme und bedürftige Verwandte.

Die DDR stellte einen Sonderfall dar. Das zwischenstaatliche Machtgefälle war dort ein innerstaatliches. Dank milliardenschwerer Transfers waren die materiellen Bedingungen ungleich besser als bei den östlichen Nachbarn, aber was dort als Transformation und in eigener Verantwortung (einschließlich chaotischer Begleitumstände) stattfand, vollzog sich hier in sämtlichen Lebensbereichen als schlagartiger Wechsel, dessen maßgebliche Protagonisten sämtlich von außen, aus dem Westen kamen. Es kam zu einem vollständigen Elitenaustausch, der dazu führte, daß die Ostdeutschen statt eigener Wortführer bestenfalls paternalistische Erklärer aus dem Westen besaßen.

Beispielhaft war ein Erlebnis auf einer literaturwissenschaftlichen Tagung in Bonn 1991, als ein recht bekannter DDR-Germanist sich über die Abwicklungspraxis im Osten beklagte und ein unbekannter Westkollege ihm daraufhin über den Mund fuhr: Er solle den Vorgang gefälligst als Chance begreifen, denn: „Sie werden entwickelt!“ Damit war die Lage geklärt, zumindest vorläufig. Die DDR war gescheitert, das intellektuelle Kapital ihrer Akademiker also wertlos. Wer aufsteigen wollte, mußte sich an die neuen Rede- und Sichtweisen anpassen.

Die Westdominanz besteht nach wie vor, sie ist aber nicht mehr unumstritten. Der Westen repräsentiert über die materielle Überlegenheit hinaus kein Versprechen an die Zukunft mehr. Sogar der westliche Demokratiebegriff wird von den Osteuropäern mittlerweile in Zweifel gezogen. Theoretisch beinhaltet er die Verpflichtung zur Rationalität, den Austausch von Argumenten, die Toleranz und den Interessenausgleich sowie den Glauben an die Nützlichkeit übernationaler Lösungen – etwa im Rahmen der Europäischen Union oder der Uno. Die Hysterie indes, mit der die politisch-mediale Klasse auf die seit Jahren erste wirkliche Oppositionspartei im Deutschen Bundestag reagiert, spricht eine ganz andere Sprache.

Für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán bedeutete die Finanzkrise 2008 den entscheidenden Einschnitt, weil sie das Selbstverständnis westlich-liberaler Demokratie-Lehrer  in brutaler Weise mit der Realität konfrontierte: „Die aus der gegenseitigen Anerkennung der Freiheit der Anderen entspringenden Konflikte werden nicht aufgrund irgendeiner abstrakten Gerechtigkeit entschieden, sondern der Stärkere hat immer recht.“ Ein liberaler Staat, der sich supranationalen Organisationen, Institutionen, Konzernen und NGOs ausliefere, sei außerstande, den Schutz der Familien und der öffentlichen Güter zu gewährleisten. Er skizzierte das Modell einer „illiberalen Demokratie“, die sich am konkreten Interesse des Volkes, des Demos, orientiert. Ein solcher Staat „verneint nicht die Grundwerte des Liberalismus, wie die Freiheit (...), macht aber diese Ideologie nicht zum zentralen Element der Staatsorganisation, sondern enthält einen von dieser abweichenden, eigenen, nationalen Denkansatz.“ Orbán  Ansatz weist überraschende Parallelen auf zu der Kritik, die linke Politiktheoretiker wie Chantal Mouffe und Colin Crouch an der realen Fassaden- beziehungsweise „Postdemokratie“ üben.

Die Masseneinwanderung hat die Ost-West-Entfremdung weiter verstärkt. Sie führt Westeuropa zunehmend in eine Situation, die Spengler als Fellachisierung bezeichnete. Menschen aus der Dritten Welt erheben Anspruch auf die Gemeinschaftsgüter der europäischen Staaten wie das Gesundheits- und Sozialsystem, ohne in der Lage zu sein, zu ihrer Mehrung oder wenigstens ihrem Erhalt etwas beizutragen. Andere Güter wie die öffentliche Sicherheit werden von ihnen sogar zerstört. So gilt auf Straßen in Deutschland und Westeuropa ein messerbewehrtes „Recht des Stärkeren“.

Zur Innenseite der Agonie gehört der Analphabetismus, der im wiedervereinigten Deutschland fröhliche Urständ feiert. Die Politik reagiert auf die Verdummung mit „leichter Sprache“, einer Kommunikation auf Vorschulniveau. Auch das Politische wird von der Infantilisierung durchtränkt. Das Motto der sogenannten Zivilgesellschaft: „bunt statt braun“, es klingt wie der Wiedergänger des „Sozialismus in den Farben der DDR“. 

Das alles fördert im Osten die Meinung, daß der Westen sich in den Modus der Selbstzerstörung begeben hat und seine vermeintliche Normalität bloß eine andere Art von Ideologie repräsentiert. Der Anti-Rassismus, der Genderismus, die Antidiskriminierungs-Offensiven, Frühsexualisierung, der „Kampf gegen Rechts“, die religiös zelebrierte Verehrung des „Flüchtlings“ ergeben zwar ein weniger konsistentes System als den Marxismus-Leninismus, formieren sich jedoch ebenfalls zu einer klaren Tendenz, an deren Ende der globalistische, geschichtslose „Neue Mensch“ stehen soll.

Während in osteuropäischen Ländern neben dem politischen auch intellektueller Widerstand dagegen laut wird, bedienen die von den Medien als „Sprecher des Ostdeutschen“ geduldeten oder hofierten Politiker und Intellektuellen – von Ausnahmen wie Hans-Joachim Maaz abgesehen – unverdrossen den Ideologie-Diskurs West und beschreiben die Proteste gegen Merkels Politik in der Ex-DDR als Reflexe von Modernisierungsverlierern und -verweigerern. 

Zu den falschen Ostexperten zählt Ines Geipel, eine ehemalige Spitzensportlerin, die sich im Kampf gegen Doping im Sport und bei der Rehabilitierung verbotener DDR-Literatur zweifellos Meriten erworben hat. Anläßlich der Vorgänge in Chemnitz wurde sie von der Tageszeitung Die Welt gefragt: „Warum lernen Ostdeutsche noch immer schlechter als Westdeutsche, mit Freiheit umzugehen?“ Die Frage enthielt erstens eine Behauptung, zweitens eine Wertung, drittens einen westdeutschen Dominanzanspruch. Geipel akzeptierte das als kommunikative Voraussetzung und verwies wie gehabt auf die DDR-Vergangenheit, als „eine ganze Gesellschaft im Käfig“ gelebt habe. An anderer Stelle verstieg sie sich zu der Äußerung: „Sachsen ist das interessanteste politische Experimentierfeld, das sich eine braune Revolte nur wünschen kann“, und attestierte dem Osten eine „irre Gewaltlust“.

Ähnlich der ehemalige Bundestagspräsident und frühere SPD-Vize Wolfgang Thierse. Auf die an sich schon demagogische Frage, ob der Rechtsextremismus nicht ein gesamtdeutsches Phänomen sei, erwiderte er: „Er ist ein gesamtdeutsches, ja, sogar europäisches Phänomen, aber er hat ein brutaleres ostdeutsches Gesicht.“ Da blieb Martin Dulig, Vorsitzender der sächsischen Kleinpartei SPD und Wirtschaftsminister des Landes, nur übrig, ebenfalls zu apportieren: „Wir müssen alle gemeinsam den Hintern hochbekommen und unser Land gegen die Rechten verteidigen.“ Kein einziger kommt darauf zu sprechen, was die Politik Merkels für das Land bedeutet.

Was solche Sprecher des Ostens von sich geben, ist dummes Zeug, das sich nahtlos in die altbundesdeutsche Staats-ideologie einfügt. Doch diese Art von Ost-West-Einheit brauchen wir nicht. Überhaupt verlaufen die entscheidenden geistigen Trennlinien nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen denen, die den zerstörerischen Diskursen nach wie vor anhängen, und denen, die ihnen widersprechen.