© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/18 / 05. Oktober 2018

Eine Totenmesse mit bezaubernden Tönen
Zirkuswunder in der Stadt der Schmerzen: Rainald Grebe feiert am Theater Dresdens „Circus Sarrasani. The Greatest Show on Earth“
Sebastian Hennig

Die offiziöse Kulturszene scheint ihre denunziatorischen Analysen des sächsischen Volksunwillens von Dresden nach Chemnitz abgezogen zu haben. Für die Landeshauptstadt gab es unterdessen sogar Ansätze der Rehabilitierung. Unter der Überschrift „Dresden – Stadt der Schmerzen“ druckte die Zeit das „Porträt eines Ortes, von dem ganz Deutschland noch etwas lernen könnte“. Der Kulturmanager Michael Schindhelm stützte die Bewerbung Dresdens zur Kulturhauptstadt für das Jahr 2025 mit dem Argument, daß die Stadt „exemplarisch steht für eine Krise der Identität unserer europäischen Gesellschaft und deshalb diesen Titel tatsächlich verdient“.

In diese Stimmungslage einer Wiederbefreundung der Medien- und Kulturschaffenden mit der Atmosphäre in der Stadt an der Elbe fügt sich Rainald Grebes Stück „Circus Sarrasani. The Greatest Show on Earth“ am Dresdner Staatsschauspiel recht gut ein. Mit dem Schaustück öffnet sich das Theater wieder den poetischen Geheimnissen des Lebens und läßt die widersprüchliche Wirklichkeit auf den Brettern aufscheinen, die die Welt bedeuten.

Dahin führte ein langer Weg und zugleich eine kulturpolitische Wende um 180 Grad. Im Winter 2015 hatte Volker Lösch am Dresdner Staatsschauspiel die volle Maschinerie theatralischer Überredungskunst für eine knallige Inszenierung von Max Frischs angestaubtem Lehrstück „Graf Öderland“ bemüht. Vor dem Hintergrund der Pegida-Demonstrationen sollten den Zuschauern jeweils ihre falschen Empfindungen vorgehalten oder zumeist die richtigen belohnt werden.

Eine Ironie ohne Bosheit rehabilitiert den Magier 

Mit dem gleichen gut geölten Apparat darf der Liedermacher und Komiker Rainald Grebe nun in zauberhaften Bildern die Frage nach dem Hingang der zirzensischen Wunderwelt aufwerfen, die 1945 in den Strudel der Zerstörung Dresdens hineingerissen wurde. In großen Tableaus wird die Geschichte des 1902 gegründeten Unternehmens nachgezeichnet. Das geschieht mit ebensoviel Respekt wie Genauigkeit und Humor. Der Zugereiste hat sich dafür des geballten lokalen Sachverstandes unter anderem des Fachhistorikers Ernst Günther und der Zirkusdirektoren Mario Müller-Milano und André Sarrasani versichert. Letzterer mußte mit seiner Firma vor zwei Jahren Insolvenz anmelden. Dennoch präsentiert er weiter Zirkuskunst mit dem Verzehrvarieté unter dem historischen Namen Sarrasani Trocadero. An einer Straßenkreuzung am Rande eines Einkaufszentrums steht sein Zelt.

Mit einer Travestie dieser prekären Situation hebt der Abend an, bevor er in chronologisches Fahrwasser eintritt. Statt dem Augenschmaus großer Artistik werden in wortreicher Hektik elaborierte Leckerbissen eines Sternekochs angepriesen. Die Liebe zum Zirkus geht inzwischen auf Umwegen durch den Magen. Die überhastete Ankündigung der Speisen wird überlagert durch ein fiktives Interview, das den Chef gleichermaßen atemlos versichern läßt, daß immer noch etwas daraufgesetzt wird, um das Publikum zum Staunen zu bringen. Währenddessen versinkt er langsam und unaufhaltsam im Bühnenboden. Die Veranschaulichung des wirtschaftlichen Untergangs des Zirkus wirkt dabei alles andere als gehässig. Eine Ironie ohne Bosheit rehabilitiert den Magier, der an der kaufmännischen Bilanz scheitert. Selbst könnte er so nicht für sich sprechen. 

Grebe leiht ihm eine Stimme. Es ist der aufrichtige Dank eines Komödianten, der dem Zirkus viel verdankt. Sein pietätvolles und unterhaltsames Programm ist eine Totenmesse auf eine, zumindest in unseren Breiten und derzeit, hingegangene Kunst. Zugleich stimmt der Abgesang noch einmal die bezaubernden Töne an, mit denen der Zirkus über mehr als hundert Jahre die Alltagstrübung der modernen Industriegesellschaft schlaglichtartig aufhellte. Das geschieht durch artistische Darbietungen, die sich hier auf der subventionierten Theaterbühne, freigestellt vom Wettbewerb um schaustellerische Aufmerksamkeit, in der elegischen Ruhe entfalten dürfen, die ihnen die größte Wirkung garantiert. Christina Wintz steigt und fällt am Vertikaltuch unter einem funkelnden Sternenhimmel. Anja Lais wettert im Maharadschakostüm des alten Hans Stosch-Sarrasani gegen die staatliche Finanzierung des Theaterbetriebs. Sein Unternehmen mußte sich nicht nur stets selbst finanzieren, es finanzierte über unzählige Steuern zugleich noch den öffentlichen Theaterbetrieb mit. 

Sven Hönig sitzt an einem Schreibtisch vor der linken Bühnenseite und beschwört mit eindringlichen Worten die große Vergangenheit des Zirkus Sarrasani, die gleichwohl immer als Aufschub von Katastrophe zu Katastrophe stattfand. Nicht immer garantierte das Spektakel den Erfolg. Gleich zu Beginn erwiesen sich die Freakshows nach amerikanischem Vorbild als Reinfall. Das deutsche Publikum empfand Mitleid für die Mißgebildeten.

Die Pläne und Fotos, mit denen Hönig hantiert, werden mit Licht an die Bühnenrückwand geworfen. Da ist der große beleuchtete Kuppelbau am Königin-Carola-Platz, der von 1912 bis 1945 eine Dominante im Stadtbild von Dresden war, oder die Bilder von der Verschiffung der Nilpferde und Elefanten nach Südamerika während der Krisenjahre zwischen den Kriegen. Der diplomierte Puppenspieler Grebe stellt ganz leicht und nebenbei in einem seiner Lieder die grundsätzliche Frage nach der Notwendigkeit jeder Art Kunst: „Die Welt braucht keine Jongleure. Jongleure brauchen die Welt.“

Wird der Zirkus an seiner Kraft zur Imagination und seiner Bindung an Kulte gemessen, die bis in die Antike zurückweisen, hat er tatsächlich weit mehr mit dem Wesen der Kunst gemeinsam, als die gegenwärtige sozialpädagogisch motivierte Kulturpraxis. Grebe führt das bezaubernd Fremde der Zirkuswelt auf der Theaterbühne vor, ganz so wie Sarrasani einst die Indianer dem Zirkuspublikum vorgeführt hat. Dazu gehört ein stummes Szenenbild mit kostümierten Sioux, auf das eine kurze Umbaupause vorgetäuscht wird. Wie sich jedoch der Vorhang wieder hebt, stehen da immer noch reglos die Indianer und starren weiter ihr Publikum an.

Grebe hat einen geistvollen, bilderreichen und tiefsinnigen Abend arrangiert. Sein Blick auf den Zirkus ist nicht ätzend, sondern labend. 

Die nächsten Vorstellungen von  „Circus Sarrasani“ finden am 5. und 13. Oktober  jeweils um 19.30 Uhr im Schauspielhaus Dresden, Theaterstraße 2, statt. Kartentelefon: 03 51 / 49 13-555

 www.staatsschauspiel-dresden.de