© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/18 / 05. Oktober 2018

Die linksideologische Durchdringung der „Mitte der Gesellschaft“
In der Faschismusfalle
Michael Wiesberg

Die „tradierten Mittel des Faschismus“ soll der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland angewendet haben, als er Mitte September in der Generalaussprache über den Kanzleretat die Flüchtlingspolitik für die Polarisierung im Land verantwortlich machte. Der SPD-Abgeordnete Martin Schulz, der diesen Vorwurf erhob, sah deshalb einmal wieder die Zeit für „antifaschistischen Widerstand“ gekommen, als er mittels des Kurznachrichtendienstes Twitter verbreitete: „Die AfD nutzt faschistische Strategien. Das führt zu Gewalt auf den Straßen. Wir sehen das gerade alle – wir müssen jetzt aufstehen!“

Schulz steht mit dieser Ansicht beileibe nicht allein, beschwört doch das linksliberale bis linksextremistische Lager seit Monaten das faschistische Gespenst in Gestalt der AfD: Die Frankfurter Rundschau sieht die AfD „auf dem Weg in den Faschismus“ (17. Juni), und der Freitag ist dem „zunehmend sichtbaren Faschismus in der AfD“ auf der Spur (9. Juli). Für die Vorsitzende der Partei Die Linke, Katja Kipping, ist es eine ausgemachte Sache, daß die AfD „auf einen modernisierten Faschismus“ ziele. „Dieser Faschismus des 21. Jahrhunderts“, so ließ sie auf Twitter verlauten, sei „explizit antidemokratisch und hochgefährlich“. Die Bremer SPD-Landesvorsitzende Sascha Karolin Aulepp hält sich mit Erklärungen gar nicht erst auf, denn für sie ist mit Blick auf die AfD klar: „Man muß Faschisten auch Faschisten nennen dürfen.“

Nun könnte man angesichts der Reflexhaftigkeit, mit der der Faschismusvorwurf immer dann erhoben wird, wenn in Deutschland eine Partei oder Strömung für sich reklamiert, im weitesten Sinne für „deutsche Interessen“ und „kulturelle Identität“ einstehen zu wollen, zur Tagesordnung übergehen und diesen Vorwurf als quasi obligatorisches Instrument linker Agitation abtun. Das allerdings wäre eine fahrlässige Mißinterpretation der Lage, ist doch der Faschismusvorwurf nur die Spitze eines ideologischen Eisbergs, dessen Dimensionen sich bekanntlich erst unter der Wasseroberfläche zeigen.

Der Faschismusvorwurf hat deshalb im linken Lager Dauerkonjunktur, weil er mit Blick auf die „Mitte der Gesellschaft“ anschlußfähig ist; seine begriffliche Unschärfe und seine Dehnbarkeit sind geeignet, bürgerliche Kreise für die scheinbar „gute Sache“ einzuspannen und als „nützliche Idioten“ zu instrumentalisieren. Diese Strategie ist zu einem gut Teil aufgegangen, wie nicht nur die Wortmeldung von Martin Schulz im Deutschen Bundestag zeigt, der nicht mehr willens oder in der Lage zu sein scheint, zwischen Rechtsextremismus, Rechtspopulismus, (National-)Konservatismus oder Faschismus zu unterscheiden. Diese begriffliche Blindheit hat System, befördert sie doch eine Polarisierung, die ganz im Sinne postkommunistischer Agitation ist: hier das Lager der (Monopol-)Demokraten von der Mitte bis weit nach Linksaußen mit ihrem „antifaschistischen Konsens“, dort die demokratiegefährdenden „Faschisten“.

Der „Neo-Antifaschismus“ erstreckt sich über das gesamte linksliberale Milieu. Von „Klassenkampf“ ist in dieser Strömung nichts mehr zu hören, dafür ist der Alarmismus gegen alles, was als „faschistisch“ verortet wird, um so aus-

geprägter. 

Um den ideologischen Kern der anti­faschistischen Agitation bestimmen zu können, bedarf es eines kurzen Rückblickes auf die Genese dieses Begriffes und dessen ursprüngliche Funktion. Der Begriff Faschismus diente zunächst nur zur Kennzeichnung eines italienischen Phänomens; sein inhaltliches und praktisches Profil steht in engster Verbindung mit Benito Mussolini.

Die Reaktion des sozialistischen und kommunistischen Lagers auf diese Herrschaft neuen Typs ließ nicht lange auf sich warten. Auf dem V. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (Komintern) im Jahre 1924 wurde der Faschismus als „Kampfinstrument der Bourgeoisie gegen das Proletariat“ bestimmt, womit neben der spezifisch italienischen Ausprägung des Faschismus auch andere europäische Parteien und Regime begrifflich erfaßt werden konnten. In Stein gemeißelt wurde die kommunistische Faschismusdefinition auf dem VII. Weltkongreß der Komintern im Jahre 1935 durch deren Generalsekretär Georgi Dimitroff, der den Faschismus als „unverhüllte terroristische Diktatur“ des Finanzkapitals charakterisierte, das er als das treibende Element hinter dem „Faschismus“ verortete. Faschismus zeige sich entweder als eine Art verdeckte Diktatur, die bürgerlich bemäntelt ist, oder als offene Diktatur.

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente der Antifaschismus in der DDR als eine Art Legitimationsideologie, die viel dafür tat (zum Beispiel durch Bereitstellung finanzieller Mittel), daß der Antifaschismus auch in der Bundesrepublik zu einem scharfen ideologischen Schwert wurde. Zur Munition von Parteien und Organisationen von KPD/DKP bis hin zur VVN-BdA gehörte die Behauptung von der „historischen Kontinuität“ zwischen Drittem Reich und Bundesrepublik, vor allem aber die Beschwörung der „neofaschistischen Gefahr“, der mit einer entsprechenden antifaschistischen Umgestaltung der Bundesrepublik zu begegnen sei.

Diesen Geist atmet auch noch der in den 1990er Jahren hartnäckig betriebene Versuch der SED-Nachfolgepartei PDS, eine „Antifaschistische Klausel“ in das Grundgesetz aufzunehmen (Bundestags-Drucksache 14/5127), um dem, wie es der marxistische Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth behauptete, angeblichen „antifaschistischen Auftrag“ des Grundgesetzes Genüge zu tun. Auf diese Weise versuchte sich die Vorgängerpartei der heutigen postkommunistischen Partei Die Linke, die PDS, nicht nur „zur Gralshüterin der deutschen Demokratie und einer pluralistischen Gesellschaft“ (Manfred Wilke) emporzuschwingen, sondern unter der Hand auch eine „DDRisierung“ der Bundesrepublik zu betreiben. Es wäre deshalb nicht überraschend, wenn die Linke im Zuge der „Vorfälle von Chemnitz“ diesen Gesetzesentwurf aus der Schublade holt.

Mit Blick auf die Bundesrepublik können, das hat der Politikwissenschaftler Claus M. Wolfschlag in seiner Arbeit über das „antifaschistische Milieu“ (Graz 2001) herausgearbeitet, im wesentlichen drei Strömungen unterschieden werden: Zum einen nennt er die oben beschriebenen Multiplikatoren des „orthodoxen Antifaschismus der Alten Linken“ von KPD/DKP bis VVN-BdA. Als weitere Ausprägung führt Wolfschlag den „aggressiven Antifaschismus der Neuen Linken“ bis hin zu RAF und dem heute noch bestehenden „autonomen Antifaschismus“ an, der sich im Zuge der 68er-Bewegung herausgebildet hat.

Die dritte antifaschistische Strömung dürfte diejenige sein, die heute die größte Anschlußfähigkeit auf sich vereinigen kann, nämlich der „Neo-Anti­faschismus“. Dieser erstreckt sich über das gesamte linksliberale Milieu, worunter Gewerkschaften, „Kultur- und Medienschaffende“, christliche Kirchen und auch die Sozialdemokratie fallen, die mit der Union darum buhlt, die „Mitte der Gesellschaft“ darzustellen. Von „Klassenkampf“ ist in dieser Strömung nichts mehr zu hören, dafür ist der Alarmismus gegen alles, was als „faschistisch“ verortet wird, um so ausgeprägter. Kennzeichen dieser Strömung ist insbesondere eine stark „antirassistische“ Ausrichtung, das Einstehen für eine „liberale“ Zuwanderungspolitik und die Propagierung von „Vielfalt“ als „Bereicherung“.

Durch den „Neo-Antifaschismus“ hat sich der Rassismus (und daraus resultierend Diskriminierung und Ausgrenzung), der im Themenrepertoire des Antifaschismus ursprünglich nur einen Aspekt neben Militarismus, Nationalismus, sozialer Ungerechtigkeit (aufgrund des Gegensatzes von Kapital und Lohnarbeit) und, ein wenig aus der Mode gekommen, Imperialismus darstellte, als ungemein wirkungsvolles Strategem herausgeschält. Hierbei leist(et)en die Sozialwissenschaften im übrigen wichtige Schrittmacherdienste.

Die Hegemoniestellung des Antifaschismus wird abgesichert durch die rigiden Diskursregeln der Politischen Korrektheit, die bezeichnenderweise in der stalinistischen und maoistischen Literatur zur Bezeichnung nicht-linientreuen Verhaltens verwendet wurde. 

In den letzten Jahren kam es zu einer auffälligen Akzentverschiebung. Nachdem von links lange Zeit vor allem der „systemimmanente, strukturelle Rassismus“ beklagt wurde, der unter anderem durch angebliche gewalttätige Übergriffe der Polizei gegen Asylbewerber oder Behördenschikanen gegenüber Ausländern offenkundig geworden sein soll, soll Rassismus nun angeblich epidemisch in der ganzen Gesellschaft als manifeste Größe anzutreffen sein. Der deutsche Staat hat sich diese Sichtweise zu eigen gemacht und versucht Rassismus mit immer neuen Aktivitäten, so zum Beispiel mit einem „Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus“ (2017), „aufklärerisch“ entgegenzutreten und die autochthonen Deutschen auf „Toleranz“ zu vergattern.

Diese Akzentverschiebung kommt nicht von ungefähr, ist doch die Instrumentalisierung des Rassismus ein integraler Bestandteil der aus den USA stammenden Ideologie des radikalen Multikulturalismus, die in Westeuropa im linken Lager eifrig rezipiert wurde. Deren Rezeption war so erfolgreich, daß mittlerweile jede Form des Widerstands gegen den Multikulturalismus von (rechts-)konservativer Seite in der Gefahr steht, als Rassismus denunziert zu werden. Diese Entwicklung hat im übrigen in den USA ihre Vorgestaltung, wie der Politikwissenschaftler Mathias Hildebrandt in seiner grundlegenden Arbeit über „Multikulturalismus und Political Correctness in den USA“ (2005) aufgezeigt hat. Der in der politischen Auseinandersetzung ungemein „praktische“ Effekt des Rassismusvorwurfs liegt auf der Hand und wird von Hildebrandt wie folgt auf den Punkt gebracht: „Politische Gegner können durch den Vorwurf des Rassismus und Ad-hominem-Attacken moralisch diskreditiert und ihre Position als indiskutabel diffamiert werden.“

Mit diesem Rüstzeug konnte der Antifaschismus und mit ihm sein zum zentralen Ideologiebaustein aufgestiegener Rassismusbegriff in Verbindung mit dem „humanitären Universalismus“ (Rolf Peter Sieferle) eine mehr oder weniger unangefochtene Hegemoniestellung erlangen, die vom „Konsens aller Demokraten“ getragen wird. Abgesichert wird diese Hegemoniestellung durch die rigiden Diskursregeln der Politischen Korrektheit, deren Ursprünge nach der US-Literaturwissenschaftlerin Ruth Perry in der stalinistischen und maoistischen Literatur zu verorten sind; hier diente sie als Instrument, mit dem „nicht-linientreues Verhalten“ kenntlich gemacht wurde  (vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte [APuZ], 21–22/95).

Der Antifaschismus, nach der Wende zunächst eine Art Integrationsvehikel für eine Linke, die nach einer neuen Existenzberechtigung suchte, wurde auf diese Weise zu einem hocheffektiven Instrument im Kampf um die Begriffe, mit dem selbst verfassungskonforme Positionen, wie sie die AfD vertritt, ausgegrenzt und moralisch kontaminiert werden können. Das Ergebnis dieser Strategie wird jeden Tag deutlicher: Das deutsche Staatswesen mutiert immer offener zur antifaschistischen Republik. Gegen diese Entwicklung – und nicht gegen halluzinierte „faschistische Strategien der AfD“ – gilt es „aufzustehen“.






Michael Wiesberg, Jahrgang 1959, Studium der Evangelischen Theologie und Geschichte, arbeitet als Lektor und freier Publizist.

Foto: Demonstration eines Bündnisses aus Parteien und Initiativen gegen Neonazis, Berlin-Spandau, 18. August 2018: Der Faschismusvorwurf hat im linken Lager Dauerkonjunktur, weil er, unscharf und dehnbar, mit Blick auf die „Mitte der Gesellschaft“ anschlußfähig ist