© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

„Dagegen sollten wir aufstehen“
Für manche ist es der Kinofilm des Jahres: „Das schweigende Klassenzimmer“ von Lars Kraume. Nun ist das packende Geschichtsdrama, das auf einer wahren Begebenheit beruht, auf DVD erschienen. Ein kritisches Gespräch mit dem Drehbuchautor und Regisseur
Moritz Schwarz

Herr Kraume, Ihren intensiven Film „Das schweigende Klassenzimmer“ kann man auf zwei Weisen sehen. Welche sind das?

Lars Kraume: Es geht um die Geschichte einer Schulklasse in Stalinstadt, heute Eisenhüttenstadt, die 1956 unter dem Eindruck des dramatischen Ungarnaufstandes spontan eine Schweigeminute für dessen Opfer abhält. Das führt zum Konflikt mit der SED, an dem die „heile Welt“ der Schüler zerbricht. Ich meine, den Film kann man nun als Aufarbeitung deutscher Geschichte und Erinnerung an das verschwundene Land DDR sehen und damit als Beitrag, die bis heute vorhandene innere deutsche Teilung weiter zu überwinden, oder als anspruchsvolle Unterhaltung, als Drama und spannende Rebellionsgeschichte.  

Was ist er für Sie?

Kraume: Das weiß ich gar nicht so genau. Kurz nach dem Erscheinen 2006 hatte ich das Buch von Dietrich Garstka gelesen, in dem er dieses Ereignis seiner Schulzeit verarbeitet hat, das sich tatsächlich im brandenburgischen Storkow zutrug. Seitdem ging mir der Stoff nicht mehr aus dem Kopf. Auch weil mich einfach interessiert, wie die deutsche Gesellschaft nach der Katastrophe des Nationalsozialismus den Transformationsprozeß zum heutigen Deutschland durchgemacht hat. In meinem Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ von 2015 ging es diesbezüglich um die junge Bundesrepublik und das Verdrängen der Schuld, nun in „Das schweigende Klassenzimmer“ um das Scheitern der Utopie des Sozialismus. 

„Die Geschichte dieser Abiturklasse ist im Kern zutiefst aktuell. Sie erzählt vom Moment der Politisierung des Einzelnen im großen Staatsgetriebe“, lobte die „Süddeutsche Zeitung“ Ihren einfühlsamen Film.

Kraume: Der Ansatz ist, die Geschichte der Zeit mit der Entwicklung des jungen Protagonisten Theo Lemke zu verknüpfen, der sich von einem unbeschwerten, sich durchlavierenden Filou zu einem erwachsenen Mann entwickelt, der den Ernst im Leben begreift, sich ihm stellt und Verantwortung übernimmt – indem er am Ende nicht dazu bereit ist, seinen Idealen abzuschwören und dem dafür das Abitur verweigert wird. Ich wollte dem Film dabei etwas Überzeitliches geben, da er sonst nur dramatisierter Geschichtsunterricht, keine Filmkunst und im Kino fehl am Platze gewesen wäre. 

Worin sehen Sie dieses Überzeitliche?   

Kraume: Einerseits in der Rebellion gegen eine Übermacht, andererseits in der Solidarität der Schüler als einem universellen humanistischen Wert – all das eingebettet in den Kontext deutscher Geschichte. Ich  hoffe, daß es mir gelungen ist, den Film so zu erzählen.

Zu diesem Kontext gehört auch die Figur des SED-Volksbildungsministers als Chef des Schulwesens – gespielt von Burghart Klaußner –, dem großen Gegenspieler der Schüler, der die diktatorische Macht der DDR vertritt – für den Sie aber auch ein gewisses Verständnis erzeugen.

Kraume: Ich wollte, daß die Zuschauer verstehen, warum diese SED-Leute so hart und so humorlos waren. 

Der Minister erinnert die Schüler an sein Leid als Kommunist unter den Nationalsozialisten. Dies ist unbestritten, aber entsteht da nicht der Eindruck, nur deshalb seien die Kommunisten grausam geworden? Tatsächlich aber gab es unter ihnen Folter, Terror und Massenmorde von Beginn an.   

Kraume: „Das schweigende Klassenzimmer“ spielt aber nun einmal nach der Erfahrung des NS-Terrors. Zudem können Sie von einem Spielfilm nicht verlangen, daß er den Kommunismus komplett aufarbeitet. Darum ging es mir auch nicht, sondern darum, eine Generation zu zeigen, die, dem Untergang von 1945 entkommen, auf eine Hoffnung und Vision setzte, die sich dann als trügerisch erweist, und deren Erfahrung Teil unserer Gesellschaft heute ist. 

Das Wesen des Kommunismus ist eigentlich nicht der autoritäre Machtstaat, den Sie allerdings eindrucksvoll zeigen, sondern die totalitäre ideologische Gleichschaltung. Doch das kommt im „Schweigenden Klassenzimmer“ nicht vor. Dort erscheint die DDR zwar brutal, aber eher als „klassische“ Diktatur. Ist das nicht ein Problem?

Kraume: Auch da gilt, daß ein Spielfilm kein politikwissenschaftliches Seminar ist und daß ich keinen Film über den Kommunismus, sondern über das Leben gemacht habe – das ist es doch, was uns Dramatiker interessiert und was wir zu dechiffrieren versuchen! Wir erzählen Geschichten. Und diese spielt eben im Kontext des frühen Sozialismus, um den selbst es aber gar nicht geht und der heute ja auch historisch abgeurteilt ist.

Entsteht nicht dennoch, wenn auch von Ihnen unbeabsichtigt, der Eindruck, Kommunismus sei eine an sich gute Idee, die nur an der Unzulänglichkeit der Apparatschiks gescheitert ist? Während doch tatsächlich schon der Idee eine mörderische Vorstellung von Gleichmacherei innewohnt, die sich ohne Rücksicht auf das Individuum historisch zu vollziehen hat.

Kraume: Sie sind erneut bei dem Vorwurf, daß der Film nicht leiste, was er weder leisten kann noch will. Was er will, ist verständlich zu machen, wie die Menschen einer bestimmten Zeit gelebt, gedacht, gefühlt und gehandelt haben. 

Sie haben betont, Sie wollten auch zeigen, daß die DDR Heimat war. Inwiefern?

Kraume: Eben die DDR so zu zeigen, wie sie sich für die meisten Menschen damals darstellte. Also differenziert und nicht nur vom Standpunkt einer Rückschau von heute aus. Und dazu gehört, daß die DDR zu Beginn auch noch sehr positive Merkmale hatte.

Nämlich? 

Kraume: Die Vision des Sozialismus.

Aber gerade der ist doch Synonym für ihre dunkle Seite, für Verfolgung und Willkür. 

Kraume: Für viele damals bedeutete Sozialismus eine Vision, man verband damit Aufbruch und Zukunft, nicht Stillstand, Mangel und Unfreiheit, wie wir heute. Ich wollte zeigen, daß und warum er nach dem Horror des Nationalsozialismus für Deutschland eine Idee der Hoffnung war. Es gab wieder Arbeit, Wohnungen, bescheidenen Wohlstand und Errungenschaften, wie erste Formen von Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern. 

Das meiste davon gilt allerdings auch für den Nationalsozialismus, inklusive Errungenschaften – wie etwa Urlaub für jedermann. Das aber kann man doch nicht mit Diktatur und Terror „verrechnen“?

Kraume: Natürlich nicht und darum geht es auch gar nicht, sondern um die Hoffnung und Enttäuschung dieser Generation. Auch wenn selbstverständlich etwa die Aufhebung der Meinungsfreiheit schwerer wog als alles, was dieser Staat seinen Bürgern zugute kommen ließ. Doch das ändert nichts daran, daß Differenzieren nötig ist und man nicht alles an der DDR schlechtreden kann.

Stimmt. Doch würden Sie das gleiche über den Nationalsozialismus sagen, der nach Wirrnis, Hunger und Not auch Stabilität und Wohlstand brachte? Würde Ihnen das nicht ein rasches Karriereende wegen „Relativierung“ einbringen?

Kraume: Wenn man den Aufstieg des Nationalsozialismus schildern will, muß man natürlich auch dessen Heilsversprechen thematisieren. Mit Relativierung hat das nichts zu tun, sondern damit, daß der Zuschauer nur so versteht, wieso diese Bewegung damals auf so viele Leute so anziehend gewirkt hat.

Es ging eben um Ihre Feststellung, nicht alles in der DDR war schlecht. Nach der gleichen Logik müßte man das dann auch über die NS-Diktatur sagen, auch dort war natürlich nicht alles schlecht. Das aber verbietet unser gesellschaftlicher Konsens – und damit wird die Logik inkonsistent. Wie gehen Sie damit um? 

Kraume: Das Unrecht des NS-Regimes war allerdings auch ungleich größer, denken Sie an Weltkrieg und Holocaust. Aber ich bleibe dabei, wenn man Menschen dieser Zeit zeigt, muß man auch erklären, warum sie trotz der Verbrechen an diesen Staat glaubten. Alles andere verhindert, sie und ihre Zeit zu begreifen.

Was ist es, was Sie dem Zuschauer mitgeben möchten? Den Appell, Widerstand zu leisten, koste es, was es wolle? Oder die Warnung, daß Widerstand einen Preis hat? 

Kraume: Ich möchte daran erinnern, daß die einfache Freiheit, seine Meinung sagen zu können, die für uns so alltäglich geworden ist, etwas sehr Wertvolles ist, das wir schätzen und bewahren sollten. Mein Film zeigt, was es bedeutet, wenn das verlorengeht. Und es würde mich freuen, wenn er Menschen animiert, ihre Meinung mutig frei zu äußern. 

Ihr Film zeigt auch, wie die DDR zu Beginn davon lebte, angesichts der NS-Verbrechen als moralisch besser dazustehen, was zunächst den Blick für das Unrecht in der DDR trübte. Doch droht Ihr Film nicht den gleichen Effekt auf uns Zuschauer zu haben: Vor dem Hintergrund des DDR-Unrechts, das Sie zeigen, stehen wir heute als besser da – was den Blick für Meinungsfreiheitsdefizite bei uns trübt.  

Kraume: Da sprechen Sie eine Transferüberlegung an, die nicht der Film, sondern jeder selbst leisten muß. Ich hoffe nicht, daß er das Bewußtsein so trübt, wie Sie es beschreiben. Im Gegenteil, ich hoffe, er regt an, darüber nachzudenken, daß auch der Kapitalismus eine Gesellschaft ist, die von uns Anpassung und das Spielen einer Rolle verlangt.    

In Ihrem Film sind die aufstehenden Schüler auf mitreißende Weise der Widerstand gegen die Repression. Heute aber geht Repression meist weniger vom Staat als von der sozialen Konvention aus. Sind „aufstehende Schüler“ heute vielleicht nicht mehr der Widerstand, sondern selbst die Repression, die zur Konformität zwingen will? 

Kraume: Das sehe ich nicht, aber Sie sprechen dennoch etwas Entscheidendes an: Heute ist es unglaublich viel komplizierter geworden, zu erkennen, wer eigentlich wirklich der Feind ist. Andererseits, vielleicht werden die Menschen in fünfzig Jahren, wenn der Kapitalismus überwunden ist, zurückschauen und sagen: Wieso hat man das 2018 nicht erkannt, es war doch offensichtlich? 

Der bekannte US-Autor Philip Roth schildert in seinem Roman „Der menschliche Makel“, wie die Repression aus der Zivilgesellschaft – nicht von oben – kommt: Ein Hochschullehrer wird zu Unrecht des Rassismus angeklagt. Die Schuld der Obrigkeit, der Uni, ist „nur“, sich wegzuducken, statt ihn in Schutz zu nehmen. Ist „Das schweigende Klassenzimmer“ also nicht – zwar historisch ungeheuer wichtig, aber – im Grunde überholt? Denn heute stehen doch alle auf. Nur wer nicht aufsteht – dem Gnade Gott. Früher stand man für „Rassismus“ auf und heute dagegen, aber die Repression bleibt. 

Kraume: Erstens, das ist im Film drin: ein Schüler will nicht mitmachen – und muß sich erklären. Zweitens, natürlich, wenn heute jemand nicht bereit ist, gegen Rassismus aufzustehen, dann muß er sich auch erklären. Aber wo ist das Problem? Denn das ist nicht Repression, wie Sie unterstellen, sondern die Konsequenz einer Gesellschaft, deren entwickeltes Gerechtigkeitsgefühl eben diese Erklärung einfordert.  

Also Repression im Namen des Guten? Aber das war doch genau die historische Argumentation der DDR beziehungsweise ist in Ihrem Film die des Volksbildungsministers.

Kraume: Sie gehen zu weit. Denn es ist natürlicher Teil jeder Gesellschaft, daß sie sich über ihre Werte austauscht. Und wenn Sie sich ihrer Ethik nicht anschließen – so führt das selbstverständlich dazu, daß Ihnen Fragen gestellt werden. Allerdings bleibt Ihnen heute, anders als in der DDR, das Recht zu sagen: „Nein, ich mache nicht mit.“

Die Konsequenzen können allerdings extrem einschneidend sein – so wie im „Schweigenden Klassenzimmer“, wo den mutigen Schülern, die sich nicht unterwerfen, das Abitur verwehrt wird. 

Kraume: So einen Common sense sehe ich bei uns nicht. Vielmehr erinnert mich das, was Sie da quasi im Kleinen sagen, an das, was jemand wie der Norwegen-Attentäter Anders Breivik im Großen gesagt hat: Er argumentierte, er habe sich nur gegen eine Sozialdemokratie und einen multikulturellen Sozialstaat gestellt, die alles integrierten. Tatsächlich aber ist das wie bei Ihnen, nach meiner Meinung, eine Verdrehung der Fakten. Denn es gibt ja Rassismus, es gibt sogar noch wahnsinnig viel Rassismus in der Welt. Und ja, dagegen sollten wir aufstehen. Und mir erscheint es höchst merkwürdig, wenn Sie das dann als die Tyrannei der Mehrheit darstellen.






Lars Kraume, der preisgekrönte Regisseur, Produzent und Drehbuchautor wurde bekannt durch Kino- und TV-Filme wie „Die kommenden Tage“ (2010), „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015),  „Der König von Berlin“ (2017) sowie von ihm verfaßte und inszenierte „Tatort“-Folgen. Seit September läuft die von Kraume geschriebene romantische Komödie „Das schönste Mädchen der Welt“ in den Kinos (nach Motiven des Stückes „Cyrano de Bergerac“). Dort hatte sein gelobter, fast „mustergültiger Film“ (FAZ) „Das schweigende Klassenzimmer“ am 1. März Premiere (Filmplakat rechts), der nun auf DVD erschienen ist. Geboren wurde Kraume 1973 in Italien, aufgewachsen ist er in Frankfurt am Main.

Foto: Spontane Gedenkminute der Schüler für die Opfer der Sowjets (Filmszene „Das schweigende Klassenzimmer“): „Vom unbeschwerten Filou, der sich durchlaviert, entwickelt er sich zu einem erwachsenen Mann, der den Ernst des Lebens begreift, sich ihm stellt und der Verantwortung übernimmt, indem er am Ende nicht dazu bereit ist, seinen Idealen abzuschwören“   

 

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