© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Die Bürger wurden von der Politik verraten
Europäische Währungsunion: Vor 25 Jahren fällte das Bundesverfassungsgericht sein Maastricht-Urteil / Verträge brechen, um den Euro zu retten?
Joachim Starbatty

Als Helmut Kohl am Freitag, den 13. Dezember 1991 vor den Bonner Bundestag trat, strahlte er. Nach der deutschen Einheit war ihm, wie er wohl glaubte, nun der nächste Coup gelungen: „In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember hat sich der Europäische Rat in Maastricht nach über 30stündigen Beratungen auf den Vertrag über die politische Union sowie über die Wirtschafts- und Währungsunion geeinigt“, erklärte der Bundeskanzler.

„Unsere bewährte Stabilitätspolitik ist zum Leitmotiv für die zukünftige europäische Währungsordnung geworden“, versprach der damalige CDU-Chef. Die Kriterien für den Beitritt zur Währungsunion lauteten: strikte Preisstabilität, unbedingte Haushaltsdisziplin, Konvergenz der langfristigen Zinssätze und eine stabile Position im europäischen Währungssystem in den letzten zwei Jahren vor Eintritt in die Währungsunion. Dies sei im Vertrag beziehungsweise in den Protokollen „eindeutig festgeschrieben“.

Zahlreiche Ökonomen mißtrauten Kohls Versprechen, andere sorgten sich um das Demokratieprinzip, sollten Souveränitätsrechte an die supranationale EU delegiert werden. Der dieses Jahr verstorbene Ex-FDP-Politiker Manfred Brunner (JF 27/18) und die Grünen klagten vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gegen das Maastricht-Ratifikationsgesetz und gegen die Verfassungsänderung – und ihre Anwälte Karl Albrecht Schachtschneider sowie Hans-Christian Ströbele und Ulrich Preuß erreichten einen Teilerfolg: Das BverfG hat in seinem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 die möglichen Gefahren einer Währungsunion erkannt und auch Vorsorge gegen Fehlentwicklungen zu treffen versucht.

Vorkehrungen zur Sicherung des Stabilitätsziels

Das Demokratieprinzip verbiete Deutschland zwar nicht, an einer – supranational organisierten – zwischenstaatlichen Gemeinschaft teilzunehmen, heißt es in den Leitsätzen zum Urteil des zweiten Senats, Voraussetzung für die Mitgliedschaft sei jedoch, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbunds gesichert sei. Die Bundesrepublik unterwerfe sich mit der Ratifizierung des Unionsvertrags nicht einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr übersehbaren „Automatismus“ zu einer Währungsunion.

Dem Gericht war bewußt, daß bei einem Fehlschlag der Stabilitätsbemühungen weitere finanzpolitische Zugeständnisse der Mitgliedstaaten notwendig sein könnten. Doch sei das noch zu wenig greifbar. Und dann kommt ein entscheidender Satz: Der Vertrag enthalte institutionelle Vorkehrungen zur Sicherung des Stabilitätsziels, die „letztlich – als ultima ratio – beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen“.

Das Ziel einer Stabilitätsgemeinschaft wird verfehlt, wenn nicht im Vertrag vorgesehene finanzpolitische Maßnahmen das Auseinanderbrechen der Gemeinschaft verhindern sollen. Eine solche Gemeinschaft zu verlassen würde dann, nach dieser Auffassung, die Vorschriften des Maastricht-Vertrags nicht verletzen. Der Vertrag habe auch vorgeschrieben, daß die Erfüllung der Konvergenzkriterien Vorbedingung für den Eintritt eines Mitgliedstaates in die Währungsunion sei. Sie sollten sicherstellen, daß nur Staaten beitreten könnten, die zuvor den Nachweis erbracht hätten, daß sie den Anforderungen einer Stabilitätsgemeinschaft gewachsen seien.

Klare Worte. Als aber Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider und der Autor Verfassungsbeschwerde beim BVerfG einlegten, weil diese auch von Kohl 1991 versprochenen Konvergenzkriterien entweder nicht erfüllt oder verletzt seien, hat Karlsruhe die Beschwerde zurückgewiesen, weil es nicht vorhersehen könne, ob aus der Währungsunion eine Stabilitätsgemeinschaft werde. Das Gericht sollte aber bloß prüfen, ob die Vorbedingungen für den Einstieg erfüllt seien.

Ein Kenner der Rechtsprechung des BVerfG, Heribert Prantl, hat das Kind beim Namen genannt: Das Gericht habe sich die Krone, die es sich mit dem Maastricht-Urteil von 1993 aufgesetzt hatte, stillschweigend wieder abgesetzt. Die zweite Verfassungsbeschwerde zur Euro-Einführung wurde am 31. März 1998 vom BVerfG zurückgewiesen (2 BvR 1877/97 und 2 BvR 50/98).

Auch die Bundesbank hat ihre Währung – die D-Mark – im Stich gelassen, hat sie doch in einem Gutachten, das im wesentlichen die Skepsis der Kläger teilte, den Satz plaziert: Es sei aus stabilitätspolitischen Gründen vertretbar, die Währungsunion mit den vorgesehenen Teilnehmern fristgerecht starten zu lassen. Mit diesem Satz ist der damalige Finanzminister Theo Waigel (CSU) freudestrahlend zur angesetzten Pressekonferenz geeilt. Sprich: Wenn es darauf ankommt, beugt sich das Recht dem politischen Willen.

Auch gegen die Aushebelung des „Bailout-Verbots“ des Lissabon-Vertrags in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 2010 ist Verfassungsbeschwerde eingelegt worden, denn weder die Gemeinschaft noch ein einzelner Mitgliedstaat darf für die finanziellen Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats eintreten. Die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde hatte sogar offen zugegeben: „Wir mußten die Verträge brechen, um den Euro zu retten.“ Das BVerfG wies die Klagen ab, da der Bundestag sowohl die Griechenlandhilfe als auch die Etablierung eines Rettungsschirms in Höhe von 750 Milliarden Euro im nachhinein gebilligt habe. Auch hier hat sich Karlsruhe von den Vorgaben des Maastricht-Urteils gelöst.

Eine Sensation war dagegen, daß das Gericht die Rettungspolitik des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, einen „Ultra vires-Akt“ genannt hat: Das Vorhaben, im Falle des Falles Staatsanleihen von Ländern, die im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Reformprogrammen unterworfen seien, anzukaufen („Whatever it takes“), sei nicht durch das Mandat des Lissabon-Vertrags gedeckt.

Politischer Opportunismus beugt den Rechtsstaat

Doch hat das BVerfG seine Entscheidung dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Prüfung vorgelegt. Dieser hat – wenig überraschend – Draghis Vorgehen als verfassungskonform angesehen. Das BVerfG hat sich um des europäischen Rechtsfriedens willen diesem Urteil widerwillig angeschlossen. Auch gegen die zwei Billionen Euro teuren Staatsanleihekäufe der EZB wurde Klage erhoben: Mit dem PSPP-Programm betreibe die EZB außerhalb ihres Mandats Wirtschafts- und Währungspolitik und verstoße gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung.

Das BVerfG hat auch diese Klagen dem EUGH zur Prüfung vorgelegt. Obwohl der EuGH die Vertreter der EZB bei der Anhörung am 10. Juli 2018 kräftig in die Mangel nahm, hat der EuGH-Generalanwalt Melchior Wathelet trotzdem die Anleihekäufe für vertragskonform erklärt (C-493/17). Auch diese Entscheidung wird wieder vor dem BVerfG verhandelt. Es ist anzunehmen, daß sich die Verfassungsrichter erneut widerwillig beugen werden.

In der Eurozone ist eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme nicht mehr gesichert. Die Bürger können sich nicht auf das Recht verlassen, wenn die Politiker in der Eurozone es anders wollen. Der Vizepräsident der EU-Kommission, der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans, betont immer wieder, der Rechtsstaat sei das Fundament der EU. Aber in der Eurozone dominiert politischer Opportunismus das Rechtsstaatsprinzip.






Prof. Dr. Joachim Starbatty ist Ökonom und Europaabgeordneter in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR).




Der Maastricht-Vertrag von 1992

Der „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) wurde am 7. Februar 1992 von den Staats- und Regierungschefs der damaligen zwölf EG-Staaten im niederländischen Maastricht unterzeichnet. Darin wurde nicht nur eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) vereinbart oder die Polizeibehörde Europol initiiert, sondern auch eine Währungs- und Wirtschaftsunion gegründet. Zahlreiche deutsche Juristen und Ökonomen kritisierten letzteres. Dies erfordere „als Vorbedingung eine dauerhafte – über mehrere Jahre hinweg nachgewiesene – Angleichung der relevanten Wirtschaftsstrukturen der Mitgliedsländer“, hieß es in dem im Juni 1992 veröffentlichten „Manifest der 62 Ökonomen gegen die Maastricht-Beschlüsse“. Es gebe kein „zwingendes ökonomisches Argument dafür, von oben eine monetäre Einheit auf ein wirtschaftlich, sozial und interessenpolitisch noch uneiniges Europa zu stülpen“. Klagen dagegen wurden vom Bundesverfassungsgericht (Az: 2 BvR 2134, 2159/92) am 12. Oktober 1993 zurückgewiesen. Der Maastricht-Vertrag trat dann am 1. November 1993 in Kraft. (fis)