© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

„Den Mund aufmachen“
Deutschlands mutigste Buchhändlerin: Susanne Dagen trotzt Boykott und Ausgrenzung
Martina Meckelein

Der Weg von der Straßenbahnhaltestelle Schillerplatz in Dresden-Blasewitz nach Loschwitz führt über das Blaue Wunder und damit über die Elbe. Rund zehn Minuten dauert es zu Fuß zu Deutschlands mutigster Buchhändlerin. Für ihre Kritiker ist sie eine Abtrünnige, eine Ketzerin und deshalb Unberührbare. Ihr Name: Susanne Dagen. Sie ist Verlegerin, Kulturveranstalterin, Mutter zweier Töchter.

 Vor einem Jahr tat die bis dato gefeierte und zweimal vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Unternehmerin etwas Unerhörtes. Jedenfalls nach den Maßstäben des bundesrepublikanischen Kulturbetriebs: Sie adressierte einen offenen Brief an den Börsenverein und initiierte die Charta 2017. Hintergrund war der Umgang mit ihm mißliebigen Verlagen auf der Frankfurter Buchmesse. Dagen forderte  gelebte Meinungsfreiheit, ein demokratisches Miteinander und sprach sich für respektvolle Auseinandersetzungen aus. Ein Jahr ist seither vergangen. Wieder hat die Buchmesse ihre Türen geöffnet. Ein Jahr, in dem sich viel für Dagen verändert hat. Grund für einen Besuch.

„Der Haß hat mich entsetzt“

Ohne die genaue Adresse würde man an dem Haus allein deshalb vorbeigehen, weil vor lauter Wein, der sich an der Fassade emporrankt, seine Bestimmung kaum auszumachen ist. Zwei Metalltische mit Klappstühlen davor wirken eher wie die Sonnenterrasse eines Privathauses als ein Fahrradparkplatz und Kartenständerfläche vor einer Buchhandlung.

Loschwitz, das ehemalige kleine Fischerdorf, erinnert an eine Puppenstube. Wie aus einer anderen Welt. Niemand würde sich wundern, wenn jetzt ein kleiner Junge in Knickerbockern vorbeiliefe. 

Statt dessen öffnet in einem roten Samtkleid und schwarzer Wolljacke, eine Gießkanne in der Hand, Susanne Dagen die Gartenpforte. „Ich bin gleich bei Ihnen“, sagt sie. „Ich muß nur noch die Blumen gießen.“ Was für ein Paradies. „Ich habe Glück“, sagt Susanne Dagen lächelnd. „Schauen Sie“, und sie zeigt auf ihren Mann Michael, der aus der Buchhandlung tritt und über den Innenhof in das gegenüberliegende Kulturhaus mit Galerie verschwindet,  „wir beide haben immerhin noch in unserem Alter volles langes Haar.“ Stimmt. Sie mit einer langen blonden Mähne, er mit schwarzem Haar mit ein wenig Grau. „Im Ernst, wenn ich das erste Mal Menschen treffe, sage ich als erstes, daß ich Glück habe. Und dann sage ich immer, daß ich einen Migrationshintergrund habe – da sind die Leute baff.“ Dagens Vater ist Kroate.

Seit 1995 betreibt sie gemeinsam mit ihrem Mann hier die Buchhandlung. „Meine Mutter entdeckte das Haus, es war zu vermieten. Die Eigentümerin wohnte in den USA. Hier war alles grau und kaputt, aber am 3. März eröffneten wir den Laden. Da war ich 22 Jahre alt. Da hast du eben noch Enthusiasmus und unermeßliche Zuversicht.“ 2004 erbte sie das Haus von der Dame aus Amerika.

 Dagen stammt aus Sachsen. Sie liebt ihre Heimat. Sie liebt Dresden. „Ich komme aus dem Bildungsbürgertum.“ Ihre Mutter leitete hier die staatliche Galerie. Dagen war, so sagt sie ohne Anflug von Selbstzerknirschung, zwar eine gute Schülerin, „aber faul wie Atze“. Als Außenseiterin habe sie sich damals in der Schule nicht gefühlt. „Allerdings behauptet meine beste Freundin, daß ich damals durchaus eine war.“ Für sie und ihre Geschwister war das Berufsleben vorgezeichnet. „Es war in unserer Familie so üblich, daß die Männer Medizin studieren würden und die Frauen Musik.“ Aber es kommt alles anders. „Als Kind habe ich wahnsinnig viel gelesen.“

An ihr erstes Buch kann sie sich zwar nicht erinnern, „aber als ich von Wolfgang Leonhard „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ las – das war für mich eine Initialzündung. Mir wurde bewußt, daß wir null Freiheit und null Individualisierung hatten.“ In der Endzeit der DDR, 1988/89, beginnt sie zwar mit dem Musikstudium, doch dann schert sie aus. Nach dem Mauerfall, sie ist 17 Jahre, reist sie ins Ausland und beginnt eine Lehre als Buchhändlerin. So lernt sie dann auch ihren Mann kennen.

 Der Aufbau der Existenz fällt mit dem Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten zusammen. Erst die Buchhandlung, später folgt, nach der Restaurierung des unter Denkmalschutz stehenden Gebäude-Ensembles, der Aufbau des Kulturhauses. Die Familie ist angekommen und anerkannt. Fast als ob sie ihre eigene Aufbauleistung unter den Scheffel stellen will, wirkt es, wenn sie sagt: „Die Buchhandelsbranche ist eine subventionierte Wohlfühlzone durch die Buchpreisbindung.“ Aber vielleicht ist es auch eine gehörige Desillusionierung über den eigenen Berufsstand. Denn kurze Zeit später sagt sie einen, jetzt fast ein wenig bitter klingenden Satz: „Im Kulturbetrieb politisch zu sein ist einfach – da bist du per se links.“

 Beim Hochwasser 2002 und 2013 nahm sie Evakuierte auf, „das ganze Haus war voll“. Sie erzählt gerne von diesen Zeiten. Von dem Gemeinschaftsgefühl, vom Trostspenden. Aber auch vom Bestehen in schicksalshaften Situationen. Dagen erklärt ihre Sicht der Dinge gern mit persönlich Erlebtem.

„Die Natur hat diese Kraft, die du als etwas Schicksalhaftes begreifst. Es ist spannend zu sehen, wie Menschen reagieren. Manche panisch und andere, dazu zähle ich mich, behalten einen klaren Kopf.“

 Solch eine Situation erlebte sie kürzlich in Berlin. „Auf dem 1. Frauenmarsch war ich dabei. Ich habe nur von den Pegida-Demonstrationen gehört und gehe dann gleich auf den Frauenmarsch in Berlin. Der Haß hat mich entsetzt. Da wurde vor meinen Augen ein älterer Mann noch auf dem Hinweg zur Demo von Linken angegriffen. Die haben so eine Strategie. Erst fährt ein Radfahrer vorbei. Der scheint zu prüfen, ob die Luft rein ist, dann ertönt ein Pfiff und die Linken stürmen auf einen zu, reißen Fahnen ab, schlagen auf einen ein. Ich bin einfach stehengeblieben, während um mich herum dieses Chaos herrschte. Ich bekomme in solchen Situationen so eine Art Tunnelblick.“ Zwei solcher Überfälle hat Dagen am 17. Februar 2018 erlebt. In der Presse stand davon nichts. Wenn sie von diesen Vorfällen erzählt, ist in ihrer Stimme eine Mischung aus Empörung und Erstaunen herauszuhören: „Ich kann Ungerechtigkeit nicht ertragen. Genausowenig wie das Messen mit zweierlei Maß. Ich kann die Hierarchisierung in richtige und falsche Opfer nicht ertragen.“

 Ihre Kritiker diskutieren nicht mit ihr, sie schweigen. Langjährige Kunden, wie die Frau eines bekannten Politikers, schauen wenn sie sich zufällig treffen, neuerdings einfach durch sie hindurch. „Ich bin in einer Diktatur aufgewachsen, ich weiß um die Stärken und Schwächen eines Menschen. Meinen Kindern sage ich auch immer: Du mußt mit den Konsequenzen, der Stigmatisierung, dem Boykott, der Ausgrenzung, der Repression und diesem Willen der anderen, dich unsichtbar zu machen, umgehen. Und das heißt: Du mußt den Mund aufmachen. Du mußt sagen: Ich bin da!“ Dagen spricht in der Ich-Form, nicht in dem kollektivierenden „man“.

 Ausgrenzung ist das eine, Überwachung das andere. Manchmal stehen Menschen vor dem Buchladen und fotografieren sie, ohne um Erlaubnis zu bitten. „Dann gehe ich dazwischen und verbitte mir das“, sagt Dagen. In dem Moment steht ein Mann um die 60 Jahre an der Pforte und beginnt in den Garten, in dem wir sitzen, ungefragt zu fotografieren. Dagen lacht: „Susi, denke ich immer bei mir, werde nicht paranoid.“

 Es ist die „Verlogenheit der Menschen, die behaupten, in Deutschland herrsche Meinungsfreiheit, man müsse eben nur mit den Konsequenzen leben“, die Dagen ärgert. „Es offenbart sich doch eine Klarheit in diesem System. Und die ist Ausgrenzung und existentielle Zerstörung.“ Ende des Jahres, so schildert es Dagen, wurde ihr seitens der Stadt Dresden die Herstellung des Kultur-Programmheftes gekündigt, „was wir bis dato gemeinsam mit den städtischen Bibliotheken Dresden produziert haben. Das war eine außergewöhnliche Zusammenarbeit“. 

„Wir Ossis betrieben keinen Schuldkult“

Kritiker werfen ihr jetzt vor, sie würde nur noch rechtskonservative Veranstaltungen moderieren. „Ja, das stimmt, aber ich habe doch gar keine andere Chance, ich werde von anderen nicht mehr angefragt. Die These wird eben untermauert, durch die Bedingungen derjenigen, die diese These selber aufstellen.“

 Nicht nur Dagen, auch ihr Freund, der Schriftsteller Uwe Tellkamp („Der Turm“), hat erlebt, was es heißt Kritik zu üben. Er hatte sich während einer Podiumsdiskussion mit dem Schriftsteller Durs Grünbein im Kulturpalast Dresden zum Thema: „Streitbar! Wie frei sind wir in unserer Meinung?“ kritisch zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung geäußert. Er sagte am 8. März 2018: „Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent.“ Einem Pawlowschen Reflex gleich reagierte der Suhrkamp-Verlag, in dem Tellkamps Bücher erscheinen, und teilte über Twitter mit: „Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlags zu verwechseln.“

Die Podiumsdiskussion fand übrigens im Rahmen des Veranstaltungsreigens der Bewerbung Dresdens um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ statt.Und dort lautet das Stichwort „Miteinander“, sagt Dagen und schüttelt – jetzt wieder lachend – den Kopf.

Was linke Kulturschaffende unter „Miteinander“ verstehen, demonstrierte im September eine Mitarbeiterin der Amadeu-Antonio-Stiftung. Sie schloß  Dagen von einem Workshop zum Thema „Echokammern und Filterblasen: Rechte Vernetzung über Social Media“ aus. Er fand während der Tagung „Die neue Mitte? Rechte Ideologien und Bewegungen in Europa“ im Hygiene-Museum in Dresden statt. „Dabei hatte ich mich ordentlich angemeldet und die 60 Euro für die Eintrittskarte bezahlt.“ Organisiert wurde die Tagung unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung. Von Teilnehmern und der Workshop-Leitung sei Dagens Ausschluß gefordert worden, bestätigte der Pressesprecher des Hygiene-Museums, Christoph Wingender, der Sächsischen Zeitung. „Zur Begründung gaben die an, ich sei die Freundin von Ellen Kositza und würde gemeinsam mit ihr im Internet die Literatursendung „Mit Rechten lesen“ moderieren.“ Kositza ist die Ehefrau des Antaios-Verlegers Götz Kubitschek. „In einer Zeitung wurde behauptet, ich sei eine Rechtsextremistin. Die haben doch eine Macke“, sagt Dagen. „Wenn ich eine Rechtsextremistin bin, ist das eine Banalisierung des Begriffes. Wir müssen uns über die Begriffe einig werden, um uns zu verstehen.“

 Den Riß, der aktuell durch Deutschland geht, sieht Dagen als Fortführung der Teilung und auch als Ergebnis der verschiedenen Sozialisierungen der Deutschen in der Bundesrepublik und der DDR. „Wir Ossis betrieben 40 Jahre lang keinen Schuldkult. Deshalb behaupten die Wessis heute, wir seien die Nazis. Wir Deutschen sind so miteinander fertig – wir haben uns nichts mehr zu sagen.“

Das hört sich nun doch sehr pessimistisch an. „Ach was“, lacht Dagen. „Obwohl ich keine Hoffnung habe, bin ich optimistisch.“





Dagens Open-Petition zur Buchmesse 

Susanne Dagen veröffentlichte im Oktober 2017 auf der Online-Plattform „Open-Petition“ einen Appell, in dem sie zu einem offenen und fairen Umgang mit anderen Meinungen aufrief. Hintergrund waren die Übergriffe auf Verlage wie Manuscriptum, Antaios und der Vierteljahresschrift Tumult während der Frankfurter Buchmesse. Unter anderem schrieb sie „Wenn ein Branchen-Dachverband wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Buchhandlungen und Verlage vereint, darüber befindet, was als Meinung innerhalb des Gesinnungskorridors akzeptiert wird und was nicht, wenn gar zu ‘aktiver Auseinandersetzung’ mit mißliebigen Verlagen unter Nennung ihrer Standnummer aufgerufen wird und diese dann im ’Kampf gegen Rechts’ beschädigt und ausgeräumt werden – dann ist unsere Gesellschaft nicht mehr weit von einer Gesinnungsdiktatur entfernt.“ Dagen erntete für die Petition viel Kritik. Sibylle Berg, eine Spiegel-Autorin, behauptete zum Beispiel, die Petition stünde „für das Recht der Rechten, ungestört Menschenhaß zu verbreiten“. Die Petition mußte nach Auflagen von „Open-Petition“ mehrfach überarbeitet werden. Sie fand 7.821 Unterstützer.

 www.openpetition.de