© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Nordirlands doppelte Leitkultur
Die beginnenden Unruhen im Herbst 1968 sind auch nach fünfzig Jahren nicht ganz vergangen
Martin Schmidt

Troubles, also Unruhen, kennzeichneten über Jahrhunderte hinweg die irische Geschichte. Jedenfalls spätestens, seitdem die protestantische englische Oberhoheit im 17. Jahrhundert unter Cromwell Züge einer brutalen Kolonialherrschaft angenommen hatte. Als eingeführter historischer Begriff werden sie indes mit jenen Ereignissen verbunden, die vor fünfzig Jahren in Nordirland eskalierten.

Das Jahr 1968 markiert für Nordirland im Vergleich zu dem damals noch weitgehend homogenen Deutschland nicht einen neuartigen ideologiebedingten Kulturbruch, sondern eine lange zuvor angelegte Zäsur zwischen zwei faktisch auseinanderstrebenden ethno-religiösen Leitkulturen. Im Kern ging es in Irland stets nur am Rande um weltanschauliche Konflikte, wenngleich sozialistische Ideen unter den gegen die englische Herrschaft aufbegehrenden „Republikanern“ seit dem Osteraufstand von 1916 erheblichen Zuspruch fanden. 

Am Anfang und in der Mitte des Jahrzehnts war es in Nordirland weitgehend ruhig. Lediglich an der Grenze zur eigenständigen irischen Republik, von der man seit der Freistaatswerdung 1921 machtpolitisch getrennt lebte, kam es immer wieder zu rebellischen Aktionen von Nationalisten. Zum 50. Jahrestag des Osteraufstandes sprengte ein IRA-Kommando die Nelson-Säule in Dublin, was noch im selben Jahr zur Wiedergründung der extremen unionistischen „Ulster Volunteer Force“ (UVF) führte, die seinerzeit im Bürgerkrieg gegen die Irish Republican Army (IRA) gekämpft hatte. 

Die Gesellschaft war sozial und territorial segregiert

Die britische Provinz war entlang der Konfessionsgrenzen in hohem Maße territorial segregiert: Der Westen mit den Counties Derry und Tyrone war vornehmlich katholisch, also irisch-republikanisch gesinnt, der Nordosten mit Belfast und Umgebung sowie der Antrim-Küste sehr weitgehend protestantisch-unionistisch bzw. loyalistisch, sprich: britisch orientiert. Das war in den Anfängen der neueren irischen Nationalbewegung zu den Zeiten von Wolfe Tone in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus einmal anders. 

In den ländlichen Gebieten lebten die Katholiken, in den ungleich stärker industrialisierten Städten ballten sich eher die Protestanten. Auch innerhalb der Städte gab es klar voneinander geschiedene konfessionelle Wohnviertel – hier die einst zugewanderten englisch- und schottischstämmigen Protestanten, dort die alteingesessenen irisch-gälischen Katholiken. Darüber hinaus ließen sich deutliche soziale Unterschiede zwischen den im Schnitt wohlhabenderen, bürgerlicheren Protestanten und den ärmlicheren, tendenziell bäuerlicheren Katholiken erkennen. 

Die „Irische Frage“ war seit 1916 und danach unterschwellig genauso virulent geblieben wie der gegenseitige Haß zwischen den Bevölkerungsgruppen. Eine Reihe von Protestaktionen seitens einer breit angelegten katholischen Bürgerrechtsbewegung beendete schließlich die trügerische Ruhe. Man wandte sich gegen Diskriminierungen bei der Stellenvergabe im öffentlichen Dienst und das noch unverkennbar vom 19. Jahrhundert beeinflußte Wahlrecht, das beispielsweise nur „Haushaltsvorständen“ eine Stimme gab. Ebenso wandten sich die Bürgerrechtler gegen die Zuweisung von Sozialleistungen auf konfessioneller Grundlage und Benachteiligungen beim Zuschnitt der Wahlbezirke, die den Protestanten eine überproportional größere Vertretung im Parlament ermöglichte.

Das öffentliche Aufsehen der Bürgerrechtsproteste war von Beginn an ungleich größer als die vorangegangenen Einzelaktionen schlecht bewaffneter und unzureichend organisierter IRA-Kommandos. Zur Eskalation kam es durch einen großen Marsch nach Derry am 5. Oktober 1968, den die mit den Protestanten sympathisierende Polizei Royal Ulster Constabulary (RUC) verhindern wollte. Polizisten kesselten die friedlichen Demonstranten ein und schlugen sie brutal zusammen. Kamerateams filmten die Szenen, und die empörenden Bilder gingen um die Welt. 

Ähnliches ereignete sich, als eine neu gegründete Studentengruppe „People’s Democracy“ einen viertägigen Marsch von Belfast nach Derry unternahm und sich dabei massiven Repressionen seitens der RUC und von Mitgliedern der UVF ausgesetzt sah. Einige Einwohner Derrys bauten daraufhin Barrikaden, verwehrten der Polizei den Zugang zu ihren Vierteln und proklamierten das „Freie Derry“. 

Der Bürgerkrieg war da, und wechselseitige Bombenanschläge der unionistischen Extremisten oder der IRA gehörten fortan zum Alltag. Dabei blieb Derry das Zentrum der Auseinandersetzung. Nachdem die RUC bei Hausdurchsuchungen durch exzessive Gewalt gegen Zivilisten sogar Todesopfer zu verantworten hatte, goß die protestantische Belfaster Regierung noch Öl ins Feuer, indem sie den loyalistischen „Apprentice Boys“ im August 1969 erlaubte, eine Demonstration am Rande des katholischen Bogside-Viertels in Derry abzuhalten. Es kam zu heftigen, fast zwei Tage andauernden Straßenkämpfen, und die RUC setzte Tränengas, Wasserwerfer und gepanzerte Fahrzeuge ein. Letztere schossen während dieser „Battle of the Bogside“ mit Maschinengewehren auf Siedlungshäuser der Katholiken und töteten einen neunjährigen Jungen. 

Nach 3.500 Todesopfern endete 1998 der Bürgerkrieg

Der seinerzeitige irische Ministerpräsident Jack Lynch hielt in Dublin eine Rede, in der er die Handlungen der Polizei Nordirlands anprangerte, die Uno aufrief, eine Friedenstruppe zu entsenden und als einzige wirkliche Lösung des Konflikts die Wiedervereinigung des Nordens mit der Republik erwähnte. Die irische Armee errichtete unmittelbar an der Demarkationslinie Feldlazarette, um verletzte Katholiken zu versorgen. Er gab sogar einen geheimen, erst dreißig Jahre später bekanntgewordenen, Befehl an die Armee, die Evakuierung der katholischen Bewohner der sechs Counties im Norden vorzubereiten.

Erst die direkte Intervention der britischen Armee brachte die Kämpfe in Derry zum Erliegen. Die Bilanz: neun Tote und über 750 Verletzte, 400 Häuser und Geschäfte zerstört. Auch das Eintreffen der Armee, der die Katholiken zunächst mehr vertrauten als der RUC, besserte die Lage nur kurzzeitig, da auch sie sehr bald als parteiisch und feindlich eingestellt wahrgenommen wurde.

Nach einer kurzen ruhigeren Phase flammte der Konflikt 1970 wieder voll auf und erreichte bis 1972 seinen blutigen Höhepunkt. Ereignisse wie der „Bloody Sunday“ im Januar 1972 in Derry oder der „Bloody Friday“ in Belfast im Juli desselben Jahres wurden zu Chiffren der Gewalt und wirken bis heute fort. Schießereien zwischen der vom Hauptarm der IRA abgespaltenen sogenannten Provisional IRA und den extremistischen loyalistischen Paramilitärs von UVF und UDA (Ulster Defence Association) hielten nun nicht mehr nur Derry, sondern auch Belfast und andere Städte in Atem. Darüber hinaus erkärten die „Provos“ die überlegene britische Armee zum Hauptfeind, was den Blutzoll unter allen Beteiligten nochmals erhöhte.

Danach konnte der Bürgerkrieg zwar immer wieder durch kurzlebige Vereinbarungen eingedämmt werden, echten Frieden brachte allerdings erst das sogenannte Karfreitagsabkommen (Good Friday Agreement) vom 10. April 1998. Die irische und die britische Regierung einigten sich mit den nordirischen Parteien auf einen tragfähigen Kompromiß, der in getrennten Referenden in der Republik und in Nordirland von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wurde. Die Kernpunkte lauteten: Dublin verzichtet auf die Forderung nach einer Wiedervereinigung, diese wird aber dennoch als mögliche Perspektive aufrechterhalten, sofern die Mehrheit der Nordiren sich dafür ausspricht, und die paramilitärischen Formationen IRA, UDA und UDF erklären sich bereit, ihre Waffen abzugeben. Rund 3.500 Todesopfer, darunter etwa zur Hälfte Zivilisten, hatten das Land zutiefst traumatisiert.

Wie sehr die Troubles gerade vor dem Hintergrund der möglichen Brexit-Folgen für die geteilte Insel nach wie vor prägend für das Selbstverständnis der Nordiren sind, spürt man am ehesten in Derry/Londonderry. Wer sich dort vor Ort ein Bild machen möchte, sollte von der alten Stadtmauer auf das Häusermeer der katholischen Bogside schauen und diese dann zu Fuß erkunden, ein Besuch auf dem riesigen Friedhof mit seinen Abteilungen der militanten Aktivisten eingeschlossen. 

Nicht minder eindrucksvoll sind die Belfaster Hochburgen der radikalen Republikaner in der Falls Road und der militanten Unionisten in der Shankill Road samt den zahlreichen martialischen Wandmalereien. Auch eine Reise nach Nordirland während der „marching season“ der protestantischen Apprentice Boys im Frühsommer vermag die Augen dafür zu öffnen, daß die Unruhen im Westen Europas auch nach einem halben Jahrhundert noch nicht gänzlich der Vergangenheit angehören.