© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Bis zum bitteren Ende
Der Erste-Weltkrieg-Spezialist Gerd Krumeich wirft die Frage auf, inwieweit Auflösungserscheinungen des deutschen Heeres im Herbst 1918 die Verhandlungsbasis mit den Entente-Mächten über die Kapitulation erschwerten. Allein die Behandlung dieser „Dolchstoßthese“ bringt die Historikerzunft gegen ihn auf
Stefan Scheil

Manchmal könnte man meinen, die vielerorts zu bemerkende Zeitenwende habe auch die Geschichtswissenschaft erreicht. Immerhin ist dann und wann ein neuer Mut zu unbequemen Wahrheiten zu beobachten, so auch bei Gerd Krumeichs neuer Arbeit über die Weimarer Republik. Der Autor beginnt mit einer Erklärung, die zugleich ein Eingeständnis ist: „Einhundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollten wir eigentlich politisch unbefangen und frei genug sein, hinter den traditionellen Schutzschilden hervorzutreten und ‘Versailles’ und den ‘Dolchstoß’ verstehend darstellen. Verstehend? Ja, ohne die Furcht, daß Berlin doch Weimar werden könnte.“ 

Zwischen diesen Worten schimmert das Elend der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung durch, soweit sie sich bisher mit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts befaßt hat. Hier blieb sie umfassend politisiert und dies in die immer gleiche Richtung, dem steten Linksdrall der letzten sechzig Jahre folgend. In diesem Umfeld glänzte der innenpolitische Beutewert einer angeblichen Kriegsschuld des konservativ-nationalen Lagers doch zu verlockend, um zu einer objektiven Beschreibung der Vergangenheit überzugehen, die eben dieses Lager entlasten würde.

Nun soll das hundert Jahre nach den Ereignissen anders werden. Leider gelingt es Krumeich zunächst nur begrenzt, diesen Anspruch einzulösen, was am Spezialthema seiner wissenschaftlichen Laufbahn gleich deutlich wird. Angesichts der auf Weimar bezogenen Themenstellung hätte der Autor zum Beispiel nicht unbedingt noch einmal auf den Kriegsausbruch von 1914 eingehen müssen. Er tut es dennoch, und natürlich schlägt man diese Seiten mit einer gewissen Erwartungshaltung auf. Was mag ein Gralshüter der These von der deutschen Hauptschuld wie Gerd Krumeich zu den spätestens seit 2014 tiefschürfend und öffentlichkeitswirksam ausgetragenen Debatten in dieser Sache zu sagen haben? Die Antwort lautet: Gar nichts! Kein Christopher Clark, kein Stefan Schmidt, kein Sean McMeekin, kein Douglas Newton finden auch nur Erwähnung. Und selbst der Kollege Rainer F. Schmidt fällt unter den Tisch, der Ende 2016 in der Historischen Zeitschrift auf die französische Kriegsverantwortung hingewiesen hat (JF 3/17), also am prominentesten Ort der deutschen Geschichtswissenschaft. 

Krumeich bietet statt dessen Karl Kautsky wieder als Zeugen auf, jenen streitbaren Marxisten, der nach 1918 im Regierungsauftrag die deutschen Akten nach Kriegsschuld durchforstete. In der 1919 publizierten Broschüre „Wie der Weltkrieg entstand“ habe Kautsky sogar von einer „Verschwörung“ Österreichs und Deutschlands gegen den europäischen Frieden gesprochen. In der Tat fielen diese Worte, wobei Kautsky schon 1919 entgegengehalten worden war, seine eigenen Veröffentlichungen würden eher das Gegenteil zeigen. Ein Jahr später hatte er sich denn auch beruhigt und korrigierte sich in einer weiteren Broschüre: „Ich war sehr überrascht, als ich in die Akten Einsicht bekam. Meine ursprüngliche Auffassung erwies sich mir als unhaltbar. Deutschland hat auf den Weltkrieg nicht planmäßig hingearbeitet. Es hat ihn schließlich zu vermeiden gesucht.“ Auch aus dieser Quelle ist für Schuldthesen also wenig zu holen, sie eignet sich nicht dafür, den Forschungsstand zu umschiffen. 

Andere Themen sind erheblich interessanter abgehandelt und machen den beachtlichen Wert des Buches aus. Viel Aufwand verwendet Krumeich darauf, seine Ausführungen über den Wahrheitsgehalt der „Dolchstoßthese“ zu erläutern, mit denen er in diesem Frühjahr Aufsehen erregt hat. Da es zu den zentralen Legenden der politischen Linken in deutschen Landen gehört, diese Dolchstoßthese sei in Wahrheit nur eine Dolchstoßlegende der politischen Konkurrenz von der Rechten, traf er einen empfindlichen Nerv. 

Es habe mehrere Varianten der Dolchstoßthese gegeben. In ihrer weitreichendsten Form lautete die Behauptung, die revolutionäre Bewegung in der Heimat habe das deutsche Heer am Sieg über den Feind gehindert. In einer wesentlich milderen Form lautete der Vorwurf, die Agitation und die Aufstände im Hinterland hätten die Streitkräfte im Oktober 1918 daran gehindert, sich bis zum Abschluß eines vernünftigen Friedens zu verteidigen. 

Unter der Leitfrage, ob der Dolchstoß: „Lüge, Legende oder doch ein wenig wahr?“ sei, neigt Krumeich dieser letzten Variante zu. Er zeigt dies anhand der Entwicklung der Waffenstillstandsbedingungen, die Deutschland gestellt wurden. Kam auf die erste Anfrage dieser Art aus Washington Anfang Oktober 1918 noch ein Fragekatalog mit der Bitte um Erläuterung zurück, so radikalisierten sich die Forderungen des Westens mit jeder neuen Runde. 

Am 23. Oktober wurde ein Waffenstillstand verlangt, der Deutschland die Wiederaufnahme von Kampfhandlungen unmöglich machen würde, also eine Kapitulation. Den folgenden Aufruf Paul von Hindenburgs an die Truppe, das sei der Beweis für den „fortbestehenden Vernichtungswillen unserer Feinde, der 1914 den Krieg entfesselt hat“, ließ die Regierung unterdrücken. Die Quittung kam am 6. November, als in der nächsten Wilson-Note schon davon die Rede war, daß Deutschland wegen seiner „Angriffe“ für die Schäden im Kriegsgebiet aufzukommen hätte. Hier klang die „Alleinschuldthese“ an, die dann Teil der Waffenstillstandsbedingungen werden sollte. 

Für Krumeich steht der Zusammenhang zwischen diesen Sondierungen und dem „lawinenartig“ zunehmenden Verdünnisieren von Frontsoldaten fest: „Durch die Selbstauflösung der Armee und die vor-revolutionäre Situation in der Heimat war es nicht mehr möglich, die Front so zu befestigen, daß man noch ernsthaft um die Friedensbedingungen hätte verhandeln können.“ Die aufkommende Revolution und das Waffenstillstandsangebot schufen also eine Situation, die bis in den Herbst 1918 hinein im alliierten Lager für unmöglich gehalten worden war, wie Krumeich ebenfalls zeigt. Er besteht darauf, „daß hinter dem Dolchstoßtopos durchaus unterschiedliche und weitaus realistischere Erklärungsversuche für die Niederlage stehen konnten“.

Differenzierung wäre also zeitgenössisch angezeigt gewesen, doch schließt der Autor mit Beobachtungen, wie dies von Rechts und Links in der Weimarer Ära versäumt wurde. In diesen Bereich gehört für ihn die Verhöhnung der heimkehrenden Soldaten durch die Revolution und besonders durch das linke Kulturestablishment. Letzterem warf auch Walter Benjamin schon vor, „die Niederlage durch ein hysterisch ins Allmenschliche gesteigertes Schuldbekenntnis in einen inneren Sieg zu pervertieren“. Das war nun wieder eine Frage des politischen Beutewerts. Wer trotz Kapitulation und Versailler Vertrag politisch gesiegt haben wollte, der mußte auch über die eigenen Soldaten gesiegt haben, zumindest moralisch. Krumeich blickt in diesem Zusammenhang auf die Entmilitarisierung der Weimarer Zeit, die in umfassender Verweigerung von Orden und Ehren für die eigenen Soldaten und der Gleichstellung von Kriegsversehrten mit Zivilversehrten bestand. Von der besonderen „Dankespflicht des Vaterlandes“ blieb nichts übrig, was eine klaffende Wunde der Republik gewesen sei, die nicht zuletzt ihren Tod bewirkte.

Diese Wunde war es denn wohl auch, die 1933 von der SPD-Reichstagsfraktion geschlossen werden sollte, als man der außenpolitischen Grundsatzerklärung des neuen Kanzlers Hitler zustimmte, Deutschland aus dem Schatten von Versailles herauszuführen. Mit dieser Episode schließt Krumeich die Darstellung ab. Eine Zeitenwende brachte sie sicher nicht, aber einen Schritt in die eine oder andere richtige Richtung schon. 

Gerd Krumeich: Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2018, gebunden, 336 Seiten, 25 Euro