© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Ein Monarch im ungnädigen Licht
Der Historiker Lothar Machtan behauptet, daß die Entmachtung Kaiser Wilhelms II. 1918 ein langgehegter Wunsch in Deutschland gewesen sei
Eberhard Straub

Kaiser Wilhelm II. war ein ungemein populärer Monarch. In ihm sah die Mehrheit der Deutschen, auch unter Intellektuellen und Arbeitern, einen ebenso eigenwilligen wie respektablen  Repräsentanten ihrer Nation. Dennoch schildern ihn die meisten Historiker seit Emil Ludwigs Biographie von 1925 als peinliche Figur, die Deutschland der Lächerlichkeit preisgab. Sie machten in der Regel keinen Versuch, zu erklären, warum Deutsche eher den Parteipolitikern und deren Spielchen mißtrauten als der mit Wilhelm II. personifizierten überparteilichen Krone. 

Einen bewußten „Kaisersturz“, wie der dramatische Titel suggeriert, hat es daher im „deutschen Herbst“ 1918 überhaupt nicht gegeben. Der Bremer Emeritus Lothar Machtan schildert in herkömmlicher Manier auch während der letzten Wochen der Monarchie Wilhelm II. als einen unberechenbaren, törichten, eitlen Schauspieler, der seiner Rolle nicht gewachsen war. Nachdem offenkundig war, daß der Krieg wohl verloren war, strebte aber erstaunlicherweise keiner energisch danach, den Kaiser zum Thronverzicht zu drängen oder gar die Gelegenheit zu nutzen, die Monarchie endlich abzuschaffen. 

Mit längst schon altmodischem Eifer entwirft Lothar Machtan das Bild eines schrecklichen Militär- und Polizeistaates, der seine Feinde verprügelt, schikaniert und einkerkert. Seltsamerweise wurden dennoch die erklärten Verfassungsfeinde, die Sozialdemokraten, 1912 zur stärksten Partei im Reichstag. Keiner der Abgeordneten oder Minister und Staatsekretäre verfiel in Panik und rief nach wehrhaften Monarchisten, Massenaufläufen, Freiluftkonzerten und effektivem Verfassungsschutz. 

Beim Kriegsausbruch 1914 scharten sich vielmehr die angeblich so unnachsichtig diskriminierten Sozialdemokraten ganz selbstverständlich mit allen übrigen Deutschen um den Kaiser, der beteuerte, nur Deutsche und keine Parteien zu kennen. Im Kriege ging es um die Nation, zu der auch die Sozialisten gehören wollten, und um Deutschlands Ehre und Größe, die dem alten Friedrich Engels keineswegs gleichgültig waren. Deren anschauliches Symbol war kein Kaiserdarsteller, sondern der leibhaftige Kaiser, auch noch 1918. 

Was veranlaßte gerade Sozialdemokraten, möglichst alles zu tun, um einen allgemeinen Verfassungsumsturz im September/Oktober 1918 zu verhindern, wenn das System konsequent seit jeher Freiheitsregungen erstickte und Kaiser Wilhelm II. ohnehin nur ein unerträglicher Schmierenkomödiant war? Auf diesen eklatanten Widerspruch weiß der Historiker keine Antwort, außer der Furcht von Recht und Ordnung achtende Sozialdemokraten, wie Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, vor der Revolution und dem mit ihr möglicherweise verbundenen Bolschewismus. Recht und Ordnung waren für beide keine Abstraktionen, sondern offenbar längst gegenwärtig im Deutschen Reich. Sozialdemokraten beteiligten sich ab dem 3. Oktober 1918 im Kabinett des Reichskanzlers Prinz Max von Baden (JF 40/18) an Verfassungsreformen und dem rechtlichen Umbau der Monarchie zu einer parlamentarischen, der praktisch allerdings schon vor dem Krieg vollzogen worden war. Der Kaiser stand ihnen dabei überhaupt nicht im Wege. Sie hatten zum Kummer von Lothar Machtan nur ein Ziel, die Monarchie zu erhalten. 

Gelegentlich erwogen einzelne, ob es für einen Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen nicht günstiger wäre, Wilhelm II. den Rücktritt nahezulegen. Der Kaiser gab freilich zu bedenken, daß auf seinen Thronverzicht als Kaiser und König von Preußen der Zusammenbruch aller monarchischen Bundestaaten im Reich erfolgen würde und damit der Reichsverfassung, die unbedingt erhalten werden sollte. Aus dem Volk drangen keine lauten Rufe, den Kaiser abzusetzen oder gar die Parlamentarisierung der Monarchie – ohne ein Parlament vollzogen – um eine radikale Demokratisierung zu ergänzen. Das Volk war erschöpft, hungerte, fror und wurde zum Opfer der Influenzaepidemie. Es wünschte nur eines, den Frieden. Wahlrechtsreformen interessierten Abgeordnete und Parteipolitiker, aber beschäftigten nicht die potentiellen Wähler. 

Die Reichsregierung hatte am 4. Oktober den Präsidenten der USA gebeten, einen Waffenstillstand zu vermitteln. Woodrow Wilson bestand als Voraussetzung zu einem Frieden auf einem gründlichen Regimewechsel, ohne sich klar auszudrücken, was er darunter verstand. Die Deutschen vermuteten, daß er den Thronverzicht des Kaisers erwartete. Die damals noch revolutionäre Politik der USA – an der sie bis heute festhalten –, einen Regimewechsel von Besiegten zu verlangen oder selber vorzunehmen, empörte die Politiker und Beamten als Eingriff in die Souveränität des Reiches. Sie hielten bis Anfang November am legitimen Monarchen fest, den Repräsentanten der deutschen Souveränität. 

Von dem Einfluß der großen Politik und den Plänen der Alliierten ist in diesem Buch gar nicht die Rede. Deshalb auch nicht weiter von der berechtigten Sorge, der abgedankte Kaiser könne, weil Repräsentant der Deutschen, als Kriegsverbrecher behandelt werden, um mit ihm symbolisch das „kriminelle Volk“ von „Kriegsschuldigen“ zu bestrafen. Solche das herkömmliche Kriegs- und Völkerrecht außer Kraft setzende Absichten verletzten die Ehre eines souveränen Staates. Auch Sozialdemokraten hatten damals davon einen klaren Begriff. Als politischer Romantiker, der Aktionen im Namen des Volkes feiern statt Bedenken referieren möchte, fängt Lothar Machtan erst richtig Feuer, wenn endlich Matrosen meutern, Arbeiter auf die Straße gehen, für einigen Lärm und Krawalle sorgen und in Berlin am 9. November überhastet die Republik ausgerufen wird. 

Das geschieht – wie er zugeben muß – nicht aus Begeisterung für demokratische Formen, sondern um auf jeden Fall die Revolution zu verhindern und die staatliche Ordnung im Reich zu erhalten. Der Kaiser verlor seinen Thron und folgte seinen Ratgebern, in den Niederlanden um Exil zu bitten. Er wurde geopfert, damit nicht ein unberechenbarer Pöbel, der Mob und das Pack die Herrschaft an sich reißt. Einige Straßenunruhen verklärt Lothar Machtan zur Revolution. Diese wurde verraten – wie Kommunisten später riefen – von Sozialdemokraten. Sie konnten das alte System retten, sie vollzogen eine konservative Revolution. 

Lothar Machtan: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht. Theiss Verlag, Darmstadt 2018, gebunden, 352 Seiten, Abbildungen, 24 Euro