© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

„Strafverfolgung ist ein Verlustgeschäft“
Der Richter Patrick Burow bekundet Zweifel an der hiesigen Rechtstaatlichkeit: Erhellende Schlaglichter auf die Defizite der Dritten Gewalt in der Bundesrepublik
Jürgen Liminski

Zu den großen Errungenschaften des europäischen Einigungswerks gehört die Rechtsstaatlichkeit. Es ist der Primat des Rechts über die Stärke. Sie hegt die Stärke ein im Gewaltmonopol des Staates. Diese Balance zwischen Recht und Stärke, zwischen Staat und Individuum sorgt für Gerechtigkeit und somit für inneren Frieden. Denn der Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit oder des geordneten Rechts, eine These, die von politischen und theologischen Philosophen, zum Beispiel Augustinus und Thomas von Aquin bis hin zu Kant, geteilt wird. Die Wurzeln der Rechtsstaatlichkeit reichen also sehr viel tiefer als die Gründung der Europäischen Union vor nunmehr 61 Jahren. Erinnert sei auch nur an die Magna Charta, die Habeas-Corpus-Akte oder die Schule von Salamanca mit den Vätern des heutigen Völkerrechts Francisco de Vitoria und Francisco Suarez. Gilt das alles noch? Ist nicht schon längst die Axt an die Rechtsstaatlichkeit in Europa und Deutschland gelegt?

Wer Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland hat, an der Balance zwischen Recht und Stärke, an der Rechtsprechung der dritten Gewalt, wird in dem Buch von Patrick Burow, „Justiz am Abgrund. Ein Richter klagt an“ viel aktuelle Bestätigung finden. Es geht dabei nicht um fundamentales Unrecht mit verhängnisvollen Folgen wie bei der Grenzöffnung durch die Regierung Merkel vor drei Jahren. Es geht um die alltägliche Banalität des Unrechts durch Überbelastung der Richter, durch staatliche Hehlerei beim Kauf gestohlener Steuerdaten, durch Mangelverwaltung des Rechts oder der Kapitulation bei Alltagskriminalität. Zu all dem liefert Burow anschauliche Beispiele. 

Richtig spannend ist sein Buch, wenn der promovierte Jurist Fälle der Kuscheljustiz erzählt und ein Kapitel weiter die „gut geölte und gnadenlose Maschine“ bei Verkehrsverstößen beschreibt. Hier funktioniert die Justiz, denn diese Maschine ist ein Milliardengeschäft. Allein 2014 beliefen sich die Einnahmen durch Buß- und Verwarnungsgelder auf 860 Millionen Euro, hinzu kommen die Anwaltskosten, die Gebühren für psychologisch-medizinische Untersuchungen, für Verkehrspsychologen etc. Burow: „Mit Straftätern läßt sich dagegen kein Geld verdienen. Ihre Ermittlung und Verurteilung kosten mehr, als später durch Geldstrafen wieder hereinkommt. Strafverfolgung ist ein Verlustgeschäft.“

Bräuchte es bei Straftätern härtere Gesetze? Burow verneint. „Die bestehenden Strafrahmen sind ausreichend“, würden aber nicht genutzt oder von höheren Instanzen kassiert. Gern werde bei dieser Forderung auf die USA verwiesen, wo drakonische Strafen verhängt werden, ohne daß die Kriminalität zurückgehe. Burow: „Auch hohe Strafen schrecken nicht ab. Nicht einmal die Todesstrafe.“ Dennoch plädiert der Richter und Autor von Kriminalromanen für härtere Strafen, denn „während der Haftzeit ist die Gesellschaft zumindest vor den Tätern geschützt. Das Sicherheitsgefühl der Bürger würde steigen, wenn Kriminelle konsequent weggesperrt werden und nicht weitere Straftaten begehen können.“ 

Das Buch überzeugt durch die Fülle von Beispielen. Es ist in der Tat meistens so: Die Kleinen hängt man auf, die Großen läßt man laufen (Kapitel V), siehe der Fall des Formel-I-Chefs Bernie Ecclestone, der sich die Freiheit für 100 Millionen Dollar erkaufte, oder der Fall Anton Schleckers oder des ehemaligen Personalvorstands der VW AG Peter Hartz. Auch der „Hätschelkurs für junge Intensivtäter“ ist erschreckend und gegen ausländische Vergewaltiger ebenso. Da sollte sich niemand über den Autoritäts- und Vertrauensverlust der Justiz wundern. 

Dennoch resigniert Burow nicht und schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, etwa mehr Personal, stringenter Gesetzesvollzug, Konzentration auf Strafprozesse, Ausschöpfung der Strafrahmen. Sein „Debattenbuch“, wie er es nennt, soll „Politikern einen Denkanstoß geben“. Das wäre wünschenswert für Deutschland. Um die Rechtsstaatlichkeit in Europa allerdings zu durchleuchten, müßte auch die EU mit ihren diversen Institutionen, insbesondere dem Europäischen Gerichtshof, auf den Prüfstand. Das verdiente ein zweites Buch.

Patrick Burow: Justiz am Abgrund. Ein Richter klagt an. Verlag Langen-Müller, Stuttgart 2018, gebunden, 205 Seiten, 22 Euro