© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/18 / 19. Oktober 2018

Ein „drittes Geschlecht“ im Personenstandsgesetz
Diverser Unsinn
Christian Spaemann

Im Namen des Volkes“ hat das Bundesverfassungsgericht im Oktober vergangenen Jahres das gegenwärtige Personenstandsgesetz für grundgesetzwidrig erklärt (1 BvR 2019/16). Es reiche nicht, daß Personen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen, auf einen Eintrag eines Geschlechts im Personenstandsregister verzichten können. Statt dessen müsse die Möglichkeit geschaffen werden, einen weiteren „positiven Geschlechtseintrag“ vornehmen zu lassen, dessen Bezeichnung das Gericht dem Gesetzgeber überläßt. Die beschwerdeführende Person habe geltend gemacht, daß „die Wahl, sich entweder in eine unzutreffende Kategorie als männlich oder weiblich einzuordnen oder den Geburtseintrag offen stehen zu lassen und damit keinem Geschlecht anzugehören“, für sie „bedeute, ein Nullum zu sein“.

Was ist hier passiert? Gibt es ab jetzt ein drittes Geschlecht oder hat sich die Menschheit bisher geirrt, weil sie nur zwei Geschlechter – Mann und Frau – kannte?

Zum besseren Verständnis schauen wir in eine Szenerie, wie sie derzeit in der gesamten westlichen Welt immer mehr zum Normalfall wird. Der Grazer Verein „Liebeslust – Zentrum für sexuelle Bildung“ zeigt in seinen staatlich finanzierten Workshops für Kinder farbige, großteils intersexuelle Gipsgenitalien, die einen fließenden Übergang zwischen weiblichen und männlichen Genitalien suggerieren. Die beiden Geschlechter, männlich und weiblich, erscheinen als Extrempunkte an den beiden Enden einer Normalverteilungskurve. Die Eltern sind angesichts dieses Verwirrspiels mit ihren Kindern ratlos.

Nachdem die letzten Hoffnungen auf soziale Gleichheit im Revolutionsjahr 1990 untergingen, hat die Linke in der westlichen Welt ein neues Objekt gefunden – die menschliche Natur. Ihren Erfolg sichert sie sich durch die weitgehende Vermeidung gesellschaftlicher Diskussionen. Statt dessen nutzt sie weidlich Hintertreppen internationaler Organisationen. Nicht zuletzt verwendet sie eine irritierende Tarnsprache, die selbst den Gebildeten unter den Normalbürgern Schwierigkeiten bereitet. Hinzu kommt die Elefantenhochzeit mit einem fröhlich miteifernden libertären Kapitalismus, der an einem allseits flexiblen, ungebundenen Individuum interessiert ist, das möglichst wenig von dem mitbringt, was ihm peinlicherweise noch an menschlicher Natur anhaften könnte.

Ausgerechnet unter dem Kampfbegriff „Diversity“ (Vielfalt) soll dem zu Leibe gerückt werden, was die Evolution in Millionen von Jahren über Ausdifferenzierung und Begrenzung von ebendieser Vielfalt hervorgebracht hat. Im Fokus steht die Dualität von Mann und Frau, in den Augen der neuen Gender-Jakobiner eine Quelle von Ungleichheit und Diskriminierung. Gender, das ist das gefühlte Geschlecht, welches sex, dem biologischen Geschlecht, entgegengesetzt wird. Mit dieser Wende zur bloßen Subjektivität von Geschlechtlichkeit meint man, endlich einen Fuß in die Türangel der Geschlechterdualität bekommen zu haben. Die dahinterstehenden Kultur- und Sozialtheoretiker scheren sich nicht um Biologie, Entwicklungspsychologie oder gar Familien- oder Generationenzusammenhänge. Biologisches Geschlecht, subjektiv gefühltes Geschlecht und sexuelles Begehren sollen nicht mehr aus einer Einheit heraus verstanden werden, sondern beliebig konstruiert eine Vielfalt von Geschlechtern suggerieren.

Was hat es mit dieser Vielfalt auf sich? Schaut man sich die Kandidaten für sie genauer an, kommt man zu einem schlichten Ergebnis: Es gibt tatsächlich nur zwei Geschlechter. Homosexuelle fühlen sich vom gleichen Geschlecht sexuell angezogen, stellen dabei aber ihre männliche oder weibliche Identität gar nicht in Frage. Transsexuelle wiederum stellen durch ihren dezidierten Wunsch, dem anderen Geschlecht zuzugehören und dafür kostspielige, martialische, hormonelle und chirurgische Eingriffe an ihrem Körper in Kauf zu nehmen,  die binäre Geschlechtsordnung nicht in Frage, sondern bestätigen sie.

Die eigentliche Motivation des Gerichts, nämlich einem radikalen Konstruktivismus in Sachen Natur das Wort zu reden, tritt zutage, wenn im Urteil von einer notwendigen „Revision des tradierten normativen Menschenbildes von Mann und Frau“ die Rede ist. 

Und was ist mit den sogenannten Transgendern, denen, die sich bei normalen Geschlechtsorganen subjektiv weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen? Was im Einzelfall wirklich dahintersteckt, ist mit diesem vagen Begriff nicht ausgedrückt. Beispielsweise hat der Protagonist solcher Figuren jenseits der Geschlechter, Conchita Wurst, vor kurzem erklärt, daß er wieder Tom Neuwirth, ein ganz gewöhnlicher männlicher Homosexueller sein will und sich in Wirklichkeit nie anders gefühlt habe. Wer bleibt nun als Hoffnungsträger für eine Sprengung der Geschlechterdualität übrig? Es sind die Intersexuellen.

Bei der Intersexualität handelt es sich um eine seltene Störung in der Entwicklung der Geschlechtsorgane, die meist mit anderen, oft erheblichen und behandlungsbedürftigen körperlichen Entwicklungsstörungen einhergeht. Die internationale Bezeichnung lautet „Disorders of sex development“, kurz DSD. Man spricht heute in der Öffentlichkeit gerne euphemistisch von „Varianten“ der Geschlechtsentwicklung. Auch diesen Störungsbildern liegt die Geschlechterdualität zugrunde.

Auf der Ebene der Chromosomen gibt es grundsätzlich zwei Formen von Intersexualität: eine chromosomal männliche mit mangelnder körperlicher Ausprägung der Männlichkeit und eine chromosomal weibliche mit einer überschießenden Ausprägung der Männlichkeit. Die meisten lassen sich daher physisch und psychisch recht eindeutig dem Spektrum von Mann oder Frau zuordnen. Sie finden in der binären Geschlechterordnung ihren gewünschten Platz, ja, Schutz.

Der Anteil der Intersexuellen, die sich tatsächlich weder physisch noch psychisch einem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen, ist sehr gering und liegt weit unter einem Promille der Bevölkerung. Dazu paßt auch, daß die Person, die durch ihre Klage das Urteil des Verfassungsgerichts bewirkt hat, selber gar nicht intersexuell im Sinne des Richterspruchs ist. Sie leidet an einem Turnersyndrom, das eindeutig dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen ist, und hat sich später einer Testosteronbehandlung unterzogen, um männlich zu werden; das heißt, sie ist offensichtlich transsexuell.

Natürlich sollte man Menschen, die sich keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen, nicht drangsalieren und zu etwas zwingen, was ihnen partout nicht entspricht. Für sie kann es durchaus eine Entlastung sein, auf Formularen ihr Kreuz an eine dritte Stelle machen zu können. Sich hierbei auf das Grundgesetz zu berufen, das jedem ein Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zusichert, mag ebenfalls nachvollziehbar sein. Das hat als solches aber nichts mit einer Sprengung der binären Geschlechterordnung und der öffentlichen Etablierung weiterer Geschlechter zu tun.

Wenn die Richter in Karlsruhe nun allerdings die Möglichkeit einer „einheitlichen dritten Bezeichnung [...] zur Erfassung eines weiteren Geschlechts“ fordern, fragt man sich, worin das geforderte „Positivum“ einer dritten Zuordnung in der Sache bestehen soll. Da es von Natur aus nur zwei Geschlechter gibt, auf deren Beziehung das Leben von uns allen beruht, wird es auch in Zukunft nur diese zwei Geschlechter geben. Daran kann auch das Bundesverfassungsgericht nichts ändern. Wenn es Menschen gelingt, entsprechend ihrer Befindlichkeit weitere Geschlechter zu konstruieren und darauf Lebensnarrative aufzubauen, sollte ihnen das wie bisher unbenommen sein. Anspruch auf öffentliche Geltung solcher Konstrukte lassen sich schwerlich daraus ableiten.

Die eigentliche Motivation des Gerichts, nämlich einem radikalen Konstruktivismus in Sachen Natur das Wort zu reden, tritt zutage, wenn im Urteil von einer notwendigen „Revision des tradierten normativen Menschenbildes von Mann und Frau“ zur Ermöglichung einer „adäquate(n) [...] Begleitung oder Behandlung“ solcher Menschen die Rede ist. Oder wenn das Gericht anführt, daß Menschen, die sich keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen und nicht die Möglichkeit eines entsprechenden Geschlechtseintrags im Personenstandsregister haben, „in ihrer individuellen Identität nicht im gleichen Maße und in gleicher Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden [...] wie weibliche oder männliche Personen“.

Daß der Sieg der Gender-Ideologie nur ein Pyrrhussieg und eine Episode in der Geschichte der Menschheit sein wird, kann jeder erkennen, der in Ruhe die statistischen Jahrbücher studiert. Aus ihnen geht hervor, wem die Zukunft gehört. 

„Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, (sei) in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch“, heißt es im Richterspruch. Hier haben wir es mit einer heute typischen Externalisierung des Wunsches nach Bewältigung angeborener Benachteiligungen zu tun. Defizite werden nicht durch Solidarität und Mitgefühl ausgeglichen, sondern kurzerhand wegdefiniert und in die alleinige Verantwortung der Gesellschaft delegiert nach dem Motto „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“. Das scheint absurd. Wenn mir ein Arm fehlt, kann ich nicht verlangen, daß die Menschheit davon abrückt, beim Menschen vier Gliedmaßen als normal anzusehen, nur damit ich mich besser fühle. Solch ein radikaler, um nicht zu sagen fanatischer Subjektivismus und Nominalismus zur Vorbeugung vermeintlicher Diskriminierungen wird letztlich genau auf die zurückfallen, die man schützen will.

Der Gesamtduktus des Urteils von vor einem Jahr ist ganz von der Genderideologie bestimmt. Es legt dem Gesetzgeber sogar mehrfach nahe, auf einen personenstandsrechtlichen Geschlechts­eintrag generell zu verzichten. Das Urteil soll ein Türöffner sein, um die gesellschaftliche Bedeutung der binären Geschlechterordnung zu kippen – eine Ordnung, auf der die ganze Menschheit beruht und die es zu hegen und zu pflegen gilt, weil vom Gedeihen der aus ihr hervorgehenden Familien unsere Zukunft abhängt.

Das Urteil kommt nicht von ungefähr. Die federführende Richterin, Susanne Baer, kennt zumindest zwei der drei Prozeßbevollmächtigten persönlich bestens. Alle drei sind Genderaktivistinnen, die sich über Jahre in den entsprechenden Netzwerken engagiert haben. Baer war von 2003 bis 2010 Gründungsdirektorin des Gender-Kompetenzzentrums an der Humboldt-Universität zu Berlin. Drei ihrer damaligen engsten Mitarbeiter haben 2006 das „Berliner Gender-Manifest“ unterschrieben, in dem es heißt, daß da, „wo Geschlechterdualität war, [...] Geschlechtervielfalt werden“ soll. Das hierzu passende Umerziehungsprogramm wird in diesem Manifest gleich mitgeliefert. Die Menschen sollen lernen, die Zweigeschlechtlichkeit als etwas Konstruiertes und historisch, kulturell und politisch Gewordenes wahrzunehmen. Durch das „Verlernen von Geschlechterstereotypen“ und durch das „dosiert(e) Irritieren“ der „Geschlechterordnung“ soll für „Offenheit und Unabgeschlossenheit des eigenen Identitätsverständnisses“ motiviert werden.

Das Gericht hat damals den Gesetzgeber verpflichtet, bis zum 31. Dezember dieses Jahres eine „verfassungsgemäße Regelung herbeizuführen“. Der Bundestag beriet vergangene Woche fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beschluß in Karlsruhe in erster Lesung über den aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Der sieht vor, daß im Geburtenregister das Geschlecht von Kindern neben männlich und weiblich auch mit „divers“ angegeben werden kann.

Das nun auf den Weg gebrachte Gesetz erscheint an sich harmlos. Das hinter dem Gesetz stehende Urteil des Bundesverfassungsgerichts hingegen nicht. Wer nun als nächsten Schritt ein gänzliches Kippen der binären Geschlechterordnung durch einen generellen Wegfall eines personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrags fordert, kann sich auf dieses Urteil berufen.

Daß der in ihm zutage tretende Sieg der Genderideologie gleichwohl nur ein Pyrrhussieg und eine Episode in der Geschichte der Menschheit sein wird, kann jeder erkennen, der in Ruhe die statistischen Jahrbücher studiert. Aus ihnen geht hervor, wem die Zukunft gehört. Nämlich den Menschen jener Kulturen, in denen das gesellschaftliche Bewußtsein von der Dualität der Geschlechter geprägt und es für junge Männer und Frauen selbstverständlich ist, zu heiraten und stabile Familien mit Kindern zu gründen.






Dr. med. Mag. phil. Christian Spaemann, Jahrgang 1957, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Acht Jahre leitete er die Klinik für psychiatrische Gesundheit in Braunau/Inn.

Foto: „Männlich“, „weiblich“ und „keine Angabe“: Die Dualität der Geschlechter bildet sich auch im Personenstandsregister ab. Das Offensichtliche wird heute von Gender-Ideologen in radikalem Subjektivismus „dekonstruiert“.