© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Vor einer technischen Revolution
E-Flugtaxis, autonomes Fahren, Vakuum-Magnetbahnen, Roboter: Ob das technisch Mögliche bei uns Realität wird, hängt nur davon ab, ob Deutschland auf der Höhe der Zeit sein will – oder die Bedenkenträger siegen
Hinrich Rohbohm

James rüttelt leicht am Arm seines Besitzers. Es ist 6 Uhr morgens. Der Haushaltsroboter weist dezent darauf hin, daß es an der Zeit ist, aufzustehen. Er spult die Termine ab, die den heutigen Tagesablauf seines Eigentümers bestimmen werden. „Ihr Schlaf war zu unruhig, Sie haben sich elfmal im Bett umgedreht und sind zweimal kurz aufgewacht“, erklärt „James“, der in der Nacht die Bewegungen des Mittvierzigers aufgezeichnet hat.

Während „James“ das Frühstück zubereitet, schreitet sein Besitzer zu seinem Smart-WC. „Ihre Urin-Werte sind kritisch. Ihr Glukosegehalt ist zu hoch. Soll ich einen Termin zur Vorsorgeuntersuchung bei Ihrem Hausarzt vereinbaren?“ erklingt es aus der Kloschüssel. Der Mann ist einverstanden, der digitale Lokus sendet die Meßergebnisse vorab an die Arztpraxis.

Beim Frühstück dann ein nur scheinbares Malheur: Der von „James“ Bediente verschüttet Kaffee auf sein Jackett. Aber das ist kein Problem. Die Flüssigkeit perlt von dem lotusbeschichteten Stoff ab. Selbstreinigende, in die Kleidung integrierte Nanopartikel entfernen auch hartnäckigeren Schmutz.

Fünf Minuten später landet das selbstfahrende Lufttaxi, das „James“ programmgemäß bestellt hat, um seinen Besitzer ins Stadtzentrum zu bringen. Dort steigt der Angestellte um in die Hochgeschwindigkeits-Magnetbahn, die ihn innerhalb weniger Minuten von Leipzig an seinen Arbeitsplatz nach München bringen wird.

Science-fiction? Keinesfalls. Der Übergang vom Informations- ins Digitalzeitalter ist längst in vollem Gange, das Schlagwort von der „Digitalisierung“ in aller Politiker-Munde, sowohl im bayerischen Landtagswahlkampf wie im hessischen. Hinter dem Begriff stecken jedoch weit mehr als Glasfaserkabel, Internetknotenpunkte und der vielfach beschworene Breitbandausbau für schnelleres Surfen im Netz.

Seit März hat Deutschland erstmals in seiner Geschichte mit Dorothee Bär (CSU) eine Staatsministerin für Digitales, angesiedelt im Kanzleramt. Doch als Bär vor ihrer Berufung in einem Interview im Zusammenhang mit dem Breitband-Ausbau in ländlichen Gebieten von „Flugtaxis“ spricht, hat die deutsche Öffentlichkeit lediglich Hohn und Spott übrig. Den Stempel „Flugtaxi-Ministerin“ hatte Bär weg. Im August legte sie indes selbstsicher nach. Noch in dieser Legislaturperiode wolle sie in einem Elektro-Fluggerät ihren „Jungfernflug antreten“ – nicht auf einer Test-, sondern einer realen Strecke.

In der Sache scheint das alles andere als abwegig. Zehn Kilometer von München entfernt basteln mehr als 70 Mitarbeiter der Firma Lilium GmbH an einem akkubetriebenen Miniflugzeug, das sie als Lufttaxi bezeichnen. Die Idee dazu entwickelten vier ehemalige Studenten der Technischen Universität München: ein Robotikexperte, einer für Aerodynamik sowie ein Raumfahrt- und ein Maschinenbauingenieur. 2015 gründeten sie ein Start-up-Unternehmen.

Start-up-Unternehmen mit hochfliegenden Plänen

Ihre Vision: Statt mit dem Auto werden Arbeitnehmer zukünftig mit Lufttaxen in die Zentren der Großstädte fahren. An deren Peripherien sollen bis zu 20 sogenannte Ports entstehen, die von den herkömmlichen Autos angefahren werden können. Von hier aus soll es auf dem Luftweg weitergehen. Dafür entwickelte das Quartett ein computergesteuertes und elektrisch angetriebenes Flugzeug, das wie eine Drohne senkrecht starten und landen kann und sich dabei nahezu geräuschlos fortbewegt. Der Fünfsitzer soll es auf eine Reisegeschwindigkeit von bis zu 300 Stundenkilometern bringen – nach firmeneigenen Angaben. Für kommendes Jahr ist der erste bemannte Flug im voll funktionsfähigen Lufttaxi avisiert.

Den Unternehmensgründern zufolge sei es dabei möglich, Luftstraßen mit bis zu 100 Spuren festzulegen, da herkömmliche Flugzeuge deutlich höher fliegen als die Flugtaxen.

Was das alles mit Digitalisierung und Dorothee Bär zu tun hat? Der deutsche Luftraum unterliegt starken rechtlichen Beschränkungen, die dazu führen, daß ein solches Unterfangen bisher nicht zulässig wäre. Ein Punkt, bei dem das neue Staatsministerium für Digitalisierung ins Spiel kommt. Wie könnte ein zukünftiger Flugbetrieb mit Lufttaxen rechtlich einwandfrei erfolgen und gleichzeitig die Sicherheit des Luftraums – noch dazu bei Flügen ohne Piloten – gewährleisten? Dafür sind moderne Computersysteme gefragt. Und die nötigen rechtlichen Rahmenbedingungen, die von der Politik geschaffen werden müssen.

Es ist nur ein Ausschnitt von vielen Bereichen, in denen die Digitalisierung unseren Lebensablauf radikal verändern könnte. Daß es sich bei all dem keineswegs um Phantastereien handelt, bestätigte Airbus-Chef Tom Enders schon vor zwei Jahren. „Unsere Flugzeuge fliegen heute schon sehr stark automatisiert. Eines Tages werden sie vollautonom fliegen können.“ Dabei werde es Computer als künstliche Piloten sowie „lernende Systeme“ geben. „Eines nicht so fernen Tages werden wir mit dem Smartphone ein vollautomatisches Flugtaxi anfordern, das vor unserer Haustür landet und mit dem wir dann losfliegen können“, prognostizierte Enders damals. Die technischen Voraussetzungen sieht er dafür in weniger als 20 Jahren erfüllt. Bei Lilium geht man davon aus, in sieben Jahren Flugtaxen buchen zu können. Zunächst soll dafür allerdings noch ein Pilot eingeplant sein.

Die Bedenken sind zahlreich. Wer wird das Projekt finanzieren? Wie sollen so schnell die dafür benötigten Park-, Start- und Landezonen errichtet werden? Mehrere Anfragen der JF, wie belastbar die neuen Verkehrsmittel bei extremen Witterungsbedingungen, bei Sturm und Unwettern seien, ließ Lilium unbeantwortet.

Ließe sich die Idee jedoch umsetzen, würde sie die Verkehrsinfrastruktur revolutionieren. Es sind Projekte wie diese, die gemeint sind, wenn von „disruptiven Technologien“ die Rede ist. Innovationen, die bestehende Produkte ersetzen oder vom Markt verdrängen: Autos, Busse, S-und U-Bahnen, Straßen- und Regionalbahnen. Alles Fahrzeuge, die wie einst die Pferdekutsche schon bald nur noch nostalgische Randerscheinungen sein könnten.

Kostenaufwendige Investitionen in Straßen- und Schienennetze wären zusehends weniger erforderlich, Diskussionen über von Autoabgasen verursachte Schadstoffe Makulatur. Dabei konkurriert Lilium mit dem in Bruchsal bei Karlsruhe entwickelten Volocopter. Beide haben ihre Jungfernflüge gemeistert. Da das autonome Fahren bei diesen Projekten ein entscheidender Faktor ist, gewinnen vor allem jene Zulieferer an Bedeutung, die mit notwendigen digitalen Komponenten aufwarten können.

Mehrere Investoren sind inzwischen mit frischem Kapital in das Geschäft eingestiegen. Großkonzerne wie Lufthansa, Airbus, Daimler und Toyota haben die Dimension dieser disruptiven Technologie längst erkannt und ihr Interesse bekundet. Auch im Ausland hat man längst ein Auge auf die in Deutschland erfolgenden Versuche geworfen. So stieg bei Lilium vor Jahresfrist unter anderem der chinesische Internetgigant Tencent als Investor ins Geschäft mit ein. Dessen milliardenschwerer Gründer Ma Huateng gehörte bis zum Frühjahr dem kommunistischen Nationalen Volkskongreß an.

Wie heikel solche Verbindungen sein können und was für Deutschland auf dem Spiel steht, läßt sich heute leicht an der tragischen Entwicklung des Transrapid zeigen. Die Hochgeschwindigkeits-Magnetbahn war bereits in den achtziger Jahren auf einer Teststrecke im Emsland erprobt worden, erreichte schon damals Spitzengeschwindigkeiten von 400 Stundenkilometern. Das Projekt wurde in Deutschland aufgegeben, die Technik dafür aber von China übernommen. Inzwischen ist das Reich der Mitte dabei, die erbeutete Technologie zu einer Art Super-Magnetbahn weiterzuentwickeln, die ähnlich wie der von Elon Musk entwickelte HyperLoop in Vakuum-Röhren fahren soll, um die Luftreibung zu reduzieren. Der neue Bahntyp soll Geschwindigkeiten bis zu 1.000 Stundenkilometern erreichen. Und damit dem Flugzeug als schnellstem Verkehrsmittel den Rang ablaufen. Auch der Güterverkehr soll über die schnell wachsenden Hochgeschwindigkeitsnetze von Asien nach Europa verlaufen und damit in Konkurrenz zur Containerschiffahrt treten.

Ein Hochgeschwindigkeitszug verbindet seit diesem Monat regulär die saudischen Städte Mekka und Medina mit über 300 Stundenkilometern – durch die Wüste mit ihren Temperaturschwankungen zwischen +55 und -5 Grad.

Leistungsfähige Roboter könnten Alltagsware werden

„Das ist typisch deutsch“, sagt Tichen Zhang und lacht. Der 27jährige studiert Technology Management am Center for Technology der TU München. Ein Bildungsangebot, das die Studenten auf Führungspositionen im Management von Spitzentechnologien vorbereitet. Er könne das so sagen, schließlich habe er inzwischen selbst die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Mit „typisch deutsch“ meint er die unzähligen Bedenken und Einwände, die Deutsche vorbringen würden, wenn es um innovative Projekte gehe. „Das ist ein Mentalitätsunterschied im Vergleich zu China.“ Dort würden sich die Leute ein Ziel setzen, das sie erreichen wollen. Daß es auf dem Weg zu diesem Ziel Unzulänglichkeiten geben wird, nehme man in Kauf. „Aber wenn in Deutschland ein Projekt nicht lizenziert, zertifiziert oder sonst irgendwie hundertprozentig abgesichert ist, fangen die Leute gar nicht erst an, Ideen in die Tat umzusetzen“, bemängelt Tichen.

Dabei beneide man in China Deutschland als das Land der Ideen. Lange Zeit habe sich der Trend abgezeichnet, daß Europa seine Industrieproduktion aufgrund der niedrigeren Löhne an die asiatischen Staaten verliere. „Aber mit der Robotik könnte sich dieser Trend wieder umkehren, weil immer effizientere Roboter gebaut werden.“

In China habe man das bereits erkannt und versuche deshalb, Einfluß auf wichtige Schlüsselindustrien Europas zu bekommen. Die chinesische Übernahme des Augsburger Roboterherstellers Kuka etwa sei dafür ein eindeutiger Beleg.

Ähnlich wie einst bei den Computern könnten immer vielseitiger einsetzbare und leistungsfähigere Roboter bei gleichzeitig preisgünstigerer Herstellung schon in wenigen Jahren zur Jedermannware werden, die aus dem Alltagsleben der Menschen nicht mehr wegzudenken ist.

Grund dafür sind nicht zuletzt die Fortschritte in der Nanotechnologie, durch die sich Computer und Roboter immer weiter verkleinern lassen. Miniatur-Roboter werden beispielsweise im menschlichen Körper nicht mehr funktionierende Zellen reparieren können. Und sogenannte Nano-Replikatoren werden aus einzelnen Atomen nahezu alles produzieren können, so die Zukunftsvision der Wissenschaftler.

Weniger komplexe Vorgänge sind längst im Alltagseinsatz. Roboter mähen schon heute selbständig den Rasen oder saugen Staub. Geräte wie Alexa gehören fast schon wie das Haustier zur Familie. In der Landwirtschaft sorgen computergestützte, intelligente Dünge- und Bewässerungssysteme für einen geringeren Wasserverbrauch.

Das alles ist jedoch erst der Anfang. An der Universität Bremen haben Forscher einen Roboter entwickelt, der bereits kochen kann und Schritt für Schritt die alltäglichen Arbeiten im Haushalt erlernen soll. Auf Baustellen werden Roboter zusehends die schweren körperlichen Arbeiten übernehmen. Beim Militär könnten sie schon bald die menschlichen Kampfeinheiten ersetzen.

In der thailändischen Restaurantkette „Hajime“ bringen schon heute Roboter Speisen an die Tische der Gäste. Roboter arbeiten als Feuerwehrleute und werden künftig auch in der Lage sein, Polizeidienste zu verrichten. Sie werden als Kranken- und Altenpfleger dienen, kommen als Fensterputzer an Hochhäusern zum Einsatz, regeln unsere Bankgeschäfte. Amazon hat dieses Jahr ein Patent auf eine paketausliefernde Drohne veröffentlicht.

Die Folge wird sein, daß ein Großteil der heutigen Arbeitsplätze wegfallen und von Maschinen übernommen wird. Was wird aus einer Gesellschaft, wenn ihr Alltagsleben überwiegend nicht mehr von Arbeit geprägt sein sollte? Wie beziehen die Menschen dann künftig ihr Einkommen? Naturwissenschaftliche Fragen beginnen, sich zu gesellschaftswissenschaftlichen Fragen zu entwickeln. Diskussionen über ein künftiges bedingungsloses Grundeinkommen könnten an Aktualität gewinnen.

„Ich habe den Eindruck, daß die deutsche Politik auf die Digitalisierung bisher nur unzureichend vorbereitet ist“, meint Tichen nachdenklich. Auch mache er in der deutschen Gesellschaft „eine gewisse Technologiefeindlichkeit“ aus. „Das kann ich nicht verstehen. Da wird doch der eigene Wohlstand verspielt“, sagt er, lächelt beim Kritisieren typisch asiatisch und schüttelt ein wenig ungläubig den Kopf.

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 https://www.volocopter.com/de

 https://hajimerobot.com