© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Der Reformeifer kennt keine Grenzen
Österreich: Ein Jahr ÖVP/FPÖ-Kooperation – ein Rollenmodell für Europas Rechte
Ralph Schoellhammer

Die aktuelle Europa-Ausgabe von Newsweek unternimmt den Versuch einer Bestandsaufnahme der österreichischen Regierung. Mit Sebastian Kurz (ÖVP) auf dem Titelbild wird beschrieben, wie die schwarz-blaue Koalition mit Mitteln aus dunkelster Vergangenheit die parlamentarische Demokratie unterwandern und eine Alleinherrschaft zementieren will. Während der Parteichef des Koalitionspartners von Kurz’ ÖVP, Heinz-Christian Strache, nur am Rande gestreift wird, stellt das Blatt den Kanzler in eine Linie mit Patrick Bateman, dem fiktiven Psychopathen aus dem Film „American Psycho“. 

All das ist natürlich an den Haaren herbeigezogener Unsinn und zeigt, daß vielen Beobachtern der österreichischen politischen Szene immer noch nicht viel mehr einfällt als bereits bei der ersten Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahre 1999. Einziger Unterschied ist, daß die Rolle des Demagogen diesmal Sebastian Kurz und nicht dem 2008 tödlich verunglückten Jörg Haider zugewiesen wird. 

Zustimmungsraten von über 50 Prozent

Innerhalb Österreichs sieht man die Sache naturgemäß etwas gelassener: Kurz ist weniger ein charismatischer Verführer als ein kühler Berechner. Spätestens bei der Präsidentschaftswahl 2016 wurde ebenso klar, daß die FPÖ und ihre Themen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. 

Obwohl der grüne Alexander Van der Bellen in der Stichwahl gegen den Kandidaten der FPÖ, Norbert Hofer, als Sieger hervorgegangen ist, gewann letzterer dennoch fast 47 Prozent der Stimmen, während Andreas Khohl von der ÖVP bereits im ersten Wahlgang ausschied. Schneller als andere in der Partei realisierte Kurz, daß er einen Vorteil gegenüber der FPÖ besitzt, welchen diese schwer wettmachen kann: Die ÖVP kann unverhohlen die Inhalte von Strache kopieren, hat aber immer noch den Ruf als staatstragende Gründerpartei der Zweiten Republik.

Das erlaubte es vielen Wählern, welche inhaltlich der FPÖ nahestehen, aber diese als unwählbar empfanden, bei der ÖVP ihr Kreuzchen zu machen. Die Rolle der Burschenschaften innerhalb der Partei oder die Bierzeltatmosphäre auf einigen Wahlveranstaltungen erscheinen dem Bürgertum der Wiener Innenstadt oder den Entscheidungsträger innerhalb der österreichischen Wirtschaft wenig charmant. 

Das Problem dieser Gesellschaftsschichten mit der FPÖ war jedoch spätestens seit den neunziger Jahren im wesentlichen ein ästhetisches und kein inhaltliches. Von der jetzigen Regierungskoalition profitieren beide: Die ÖVP wird plötzlich in Regionen populär, wo bis vor kurzem noch eine sozialistische Alleinherrschaft Bestand hatte. Gleichzeitig wird die FPÖ durch ihre Rolle in der Koalition zunehmend salonfähig, und hofft durch eine durchgehaltene Legislaturperiode den Ruf loszuwerden, daß die Rechten nicht regierungsfähig seien.

Ein Jahr nach Beginn der Regierung scheint diese Strategie weithin aufzugehen. Meinungsumfragen sehen die Koalition kontinuierlich bei Zustimmungsraten von über 50 Prozent, und das Regierungsprogramm wird ohne großes Aufsehen durchgezogen. 

Wurde in Österreich in der Vergangenheit immer mehr von einer Verwaltungsreform gesprochen als eine solche umgesetzt, so ist es jetzt beinahe umgekehrt: Sozialversicherungssysteme werden zusammengelegt, Verantwortungen zwischen Bund und Ländern klar definiert und Budgets wo immer möglich ausgeglichen. Selbst die positive Tatsache, daß das Land erstmals seit 1995 ein Nulldefizit vorweisen kann, wurde nur bescheiden verkündet.

Dieser Reformeifer ist möglich, weil die Betroffenen innerhalb der zu reformierenden Institutionen nur wenig Einfluß auf die zentralen Regierungsmitglieder besitzen. In den 73 Jahren seit 1945 wurde Österreich in Summe 44 Jahre lang von einer Koalition aus SPÖ und ÖVP regiert, was zu einer demokratiepolitisch ungesunden Verflechtung von Partei- und Staatsinstitutionen führte: Jede Verwaltungsreform hätte zum Nachteil von Mitgliedern der eigenen Partei erfolgen müssen, was weitreichende Reformen in der Vergangenheit praktisch unmöglich machte. 

Kopflose Opposition erleichtert die Arbeit

Dieses Problem besteht zwar weiterhin, ist aber wesentlich schwächer ausgeprägt. Mit wenigen Ausnahmen war der FPÖ der Zugang zum aufgeblähten Beamtenapparat verwehrt, weshalb eine Verschlankungspolitik in der Bürokratie die eigene Klientel kaum berührt. Nachdem es auf seiten der ÖVP niemanden gibt, der sich zutrauen würde, den populären Bundeskanzler zu beerben, muß die Partei seinen Reformkurs zähneknirschend mittragen. Darüber hinaus zeigt sich die Koalition zunehmend unternehmens- und arbeitgeberfreundlich, was sich zuletzt in der Legalisierung von zwölfstündigen Arbeitstagen in Ausnahmefällen niederschlug.

Das Herzstück der Regierung ist und bleibt aber die Einwanderungspolitik und die von ihren Wählern erwartete Verschärfung der Zuwanderungsbestimmungen und insbesondere die Regeln für den Zugang zum österreichischen Sozialsystem. Unter FPÖ-Innenminister Herbert Kickl werden Abschiebebescheide nun konsequent durchgeführt, und auch das Sozialsystem wird nach dem „Österreich zuerst“-Prinzip neu geordnet. 

So wurde im Sommer 2018 Asylbewerbern der Zugang zu Lehrstellen untersagt, da das Erwerben einer Ausbildung oft als Druckmittel benutzt wurde, um einen Daueraufenthalt zu erzwingen.

Gleichzeitig wird eifrig an einer Überarbeitung der Mindestsicherung gearbeitet, welche ebenfalls Österreichern gegenüber Zuwanderern einen Vorteil verschaffen soll. Hier wird die Umsetzung jedoch größeren Hürden ausgesetzt sein, da der Österreichische Verfassungsgerichtshof feststellen muß, ob solche Änderungen gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Doch selbst wenn nicht alle Vorhaben umgesetzt werden können, so sendet die Regierung kontinuierlich Signale an ihre Kernwähler, daß man den Wählerauftrag weiterhin ernst nimmt.

Die Opposition scheint dieser Lawine an Aktivität nur hilflos gegenüberzustehen. Mit dem im Oktober erfolgten Rücktritt von Christian Kern als Chef der SPÖ und dem bereits im Mai stattgefundenem Rückzug von Matthias Strolz von den liberalen NEOS haben zwei von drei Oppositionsparteien im ersten Jahr von Schwarz-Blau ihre Parteiführung verloren. Alleine die von allerlei innerparteilichen Turbulenzen geplagte „Liste Pilz“ des ehemaligen Grünen Abgeordneten Peter Pilz (64) hält sich noch. 

In einer Hinsicht behält die Newsweek-Reportage dann vielleicht doch recht: Der österreichische „Rechtspopulismus“ scheint den Übergang vom Wahlkampf in die Regierungsverantwortung zu schaffen und wird damit zusehends zum Rollenmodell der europäischen Rechten.