© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Was wissen die Toten
Deutungshoheit: Die Reaktionen im Fall der ermordeten Studentin Sophia Lösche werfen Fragen auf
Thorsten Hinz

Um das Andenken der getöteten Tramperin Sophia Lösche tobt ein regelrechter Kulturkampf, der nun auch mit juristischen Mitteln ausgetragen wird. Auf dem Chemnitzer Schweigemarsch am 1. September für den von Migranten erstochenen Daniel H. war auch ein schwarzumrahmtes Plakat mit Sophias Porträt getragen worden. Als Vorlage hatte das Fahndungsfoto der Polizei gedient. Ihr Bruder Andreas Lösche, ein Grünen-Politiker aus Bamberg, hat deswegen mehrere Anzeigen erstattet, darunter gegen den Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke und Pegida-Gründer Lutz Bachmann als Mitveranstalter. Lösche sieht das Vermächtnis seiner Schwester mißbraucht und beschmutzt. Die Regelung, daß Fahndungsfotos nach Abschluß der Suche nicht mehr von Dritten benutzt werden dürfen und die Urheberrechte an denjenigen, der die Foto gemacht hat, zurückfallen, soll als juristischer Hebel dienen. 

Die 28jährige Sophia Lösche, Studentin der Politikwissenschaften in Leipzig, hatte am frühen Abend des 14. Juni  auf dem Autohof Schkeuditz-West an der Autobahn 9 mehrere Lkw-Fahrer angesprochen. Sie suchte eine Mitfahrgelegenheit nach Nürnberg. Von dort wollte sie mit dem Zug ins oberpfälzische Amberg zu ihrer Familie fahren. Gegen 18.20 Uhr bestieg sie einen Lastwagen mit marokkanischem Kennzeichen. Eine Woche später wurde ihre halbverbrannte Leiche in Südspanien aufgefunden. Ihr mutmaßlicher Mörder, ein 41jähriger Marokkaner, wurde Ende August nach Deutschland überstellt.

Die Trauerrede hielt der EKD-Ratsvorsitzende

Während die Teilnehmer des Trauermarsches in Sophia ein Opfer von Merkels Flüchtlingspolitik sehen, spricht ihr Bruder von einer „absurden, perversen Verdrehung dessen, wofür Sophia stand. Sie stand für Hilfe für Geflüchtete, für Menschlichkeit“. Die AfD und Pegida betrieben „menschenfeindliche Agitation in ihrem Namen“.  Seine Schwester würde „unter keinen Umständen wollen, daß auf ihre Kosten rassistische Hetze betrieben“ würde. Man müsse ihr Andenken und ihren Namen schützen vor jenen, die damit Haß und Kälte verbreiteten und menschenverachtendes Reden und Verhalten rechtfertigten.

Seine Gewißheit bezieht Andreas Lösche auch aus Sophias politischem Engagement. Die Pfarrerstochter hatte als Schülersprecherin wesentlichen Anteil daran gehabt, daß ihrem Gymnasium der Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ verliehen wurde. Später setzte sie sich in verschiedenen Initiativen gegen Rassismus, für Bewegungsfreiheit und offene Grenzen ein. Mehrmals fuhr sie auf die griechische Insel Lesbos, wo viele Schlepperboote anlanden, um die dortigen Umstände zu dokumentieren und zu Hause darüber Vorträge zu halten. 2014 wurde sie Vorsitzende der Jusos in Bamberg-Stadt und beschäftigte sich mit „Themen wie Asyl und die Unterbringung der Asylbewerbenden speziell in Bamberg, der Sperrzeit und alternative Lösungen, mit dem vorsorgenden Sozialstaat oder der Entwicklung der Hochschule“.

Auf einer Trauerfeier versuchte der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm ihr mit den Worten gerecht zu werden: „Sophia hat ganz aus dem Vertrauen gelebt. Sie hat andere Menschen nicht als potentielle Gefahr, sondern zuallererst als Menschen gesehen, die als gute Geschöpfe Gottes fähig sind zur Mitmenschlichkeit und die selbst Mitmenschlichkeit verdienen. Vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn sie aus dem Mißtrauen heraus gelebt hätte. Aber wäre das das bessere Leben gewesen?“ Während Sophias Angehörige sich von der Würdigung beeindruckt zeigten, wurde in elektronischen Kommentarspalten Befremden geäußert, weil sie eine Deutung à la „Lieber tot als rechts“ nahelegten.

Natürlich befinden die Familie und Freunde sich nach dem gewaltsamen Tod der jungen Frau  in einem Ausnahmezustand. Der Bruder hat widerliche Haßmails erhalten, in denen sich die – bei der Gelegenheit unangebrachte – Kritik an den Aktivitäten der Toten bis zu Häme und Schadenfreude steigerten. Andererseits muß er akzeptieren, daß er keine Interpretationshoheit über das Schicksal seiner Schwester besitzt. Die Zeitumstände haben die Tat und ihr Opfer zum Gegenstand des öffentlichen Interesses gemacht.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es sich bei dem mutmaßlichen Mörder und Vergewaltiger um keinen Migranten, sondern um einen Fernfahrer handelte, der mit Frau und Kindern in Marokko lebte. Das Verbrechen an Sophia zählt zu den zahlreichen Sexualdelikten und Morden, die von Tätern aus dem Maghreb und Afrika in Deutschland verübt werden. Eine zusätzliche politische Pointe liegt darin, daß die Tote sich bemüht hatte, Menschen aus diesen Gegenden den Zugang nach Europa zu eröffnen. Auch deshalb kann die Familie keine Deutungshoheit über ihr Schicksal mehr erheben.

Woher beziehen Andreas Lösche und Bischof Bedford-Strohm überhaupt ihr Wissen, was Sophia sagen würde, könnte sie sich nach allem, was sie durchmachen mußte, heute zu Wort melden? „Was wissen die Toten“, heißt ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz auf einen 1945 verschollenen Freund, dessen Schicksal bis heute ungeklärt ist, das mit den Versen beginnt: „Und Du, der Du fortgingst …/ Waldwärts und kamest nicht wieder“. Das Gedicht handelt im Tonfall der Demut vom quälenden, unabänderlichen Nichtwissen der Hinterbliebenen.

In Psychothrillern stellen der freundliche Nachbar oder die charmante Zufallsbekanntschaft sich urplötzlich als pathologische Killer heraus. Die angstgeweiteten Augen, in denen sich neben Todesfurcht die schockartige Erkenntnis des Opfers spiegelt, daß alles, was es über sein Gegenüber und die Welt insgesamt zu wissen glaubte, falsch gewesen ist – sie sind das eindrückliche Signum einer „Ästhetik des Schreckens“ (Karl Heinz Bohrer). Im Bruchteil einer Sekunde werden feststehende Erwartungszusammenhänge pulverisiert und ein neuer Modus des Sehens ausgelöst, der den Blick auf verschüttete, verdrängte, tabuisierte Realitäten und Zusammenhänge eröffnet. Das ganze Vokabular über „Weltoffenheit“, „interkulturelle Kompetenz“, „Toleranz“, „Willkommenskultur“, das nach allem Anschein Sophias geistig-moralische Welt konstituierte, erwies sich schlagartig als wertlos.

Es gibt Konstellationen, die Mißtrauen verdienen

War es wirklich „ihr Leben“, das sie an ihr schreckliches Ende führte? Oder folgte es den irrealen Vorstellungen einer Ideologie, die andere ihr einflüsterten? Vielleicht hat Sophia in ihren letzten Momenten die Erkenntnis durchzuckt, einem Irrtum aufgesessen zu sein und hat sie Bitterkeit darüber empfunden, daß weder die Familie noch die Schule, die Kirche, die Jusos, die Universität sie vor den Abgründen gewarnt hatten, die sich nun vor ihr auftaten. Daß ihr die Fähigkeit abtrainiert worden war, die Umstände realistisch einzuschätzen. 

Es ist wahr, kein Mensch kann aus einem ständigen Mißtrauen heraus existieren, aus einem negativen Verhältnis zur Welt und zu den Mitmenschen, die man ausschließlich als Quelle von Gefahren betrachtet. Ein Leben ohne Vertrauen wäre in der Tat furchtbar. Es gibt aber Konstellationen und Angebote, die ausschließlich Mißtrauen verdienen und identifiziert werden müssen. „Was auch immer mit Sophia passiert ist, es ist definitiv nicht das Resultat zwischen der anscheinenden Andersartigkeit von Kulturen“, schrieben ihre Freunde auf Facebook. Auch ihr Bruder äußerte sich in diesem Sinn. Zumindest das Wort „definitiv“ ist begründungsbedürftig. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie der Anwalt des Marokkaners im Prozeß argumentieren wird: Sein Mandant habe die Anfrage und den freiwilligen Einstieg der jungen Frau aufgrund seines anders gearteten kulturellen Hintergrundes als sexuelle Offerte ansehen müssen. Durch die unerwartete Zurückweisung habe er sich in seiner Ehre verletzt gefühlt und zu einer Affekthandlung hinreißen lassen. Was will ihr Bruder dagegen vorbringen?

Sophia hat nicht nur auf Mißtrauen, sondern auch auf jegliche Vorsicht verzichtet, das heißt auf ein besonnenes, Gefahren voraussehendes und meidendes, wachsames Verhalten. Wieder und wieder weisen die Polizei und „XY ungelöst“ darauf hin, daß Reisen per Anhalter für weibliche Einzelpersonen ein hohes Risiko darstellt, egal ob das Auto ein deutsches oder marokkanisches Kenneichen hat. Die Naivität der immerhin 28jährigen Sophia Lösche ist wohl nur damit zu erklären, daß die indoktrinierte Hypermoral ihre Persönlichkeit durchtränkt und alle Selbstschutzfunktionen außer Kraft gesetzt hat.

Ihr Bruder, der sich nun in den medialen und juristischen „Kampf gegen Rechts“ hineinsteigert, muß sich fragen lassen, ob solche politische Bewirtschaftung dem Andenken seiner Schwester gerecht wird. Es ist eine Ersatzhandlung, die eigene Schuldgefühle unterdrücken und sein Weltbild stabilisieren soll. Und vor allem ist es eine Flucht vor den wesentlichen Fragen, die der Tod von Sophia Lösche aufwirft. Die tiefste Frage hat Marie Luise Kaschnitz formuliert. Ihr Gedicht „Was wissen die Toten“ endet mit den Worten: „Du kamest nicht wieder. Was weißt Du jetzt?“