© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Die Ratlosen flüchten in Werte
Vernunft, Leidenschaft, Visionen: Ein Essay zum Verhältnis von Republik und Demokratie
Eberhard Straub

Im Deutschen gibt es den Begriff Vernunftrepublikaner. Er wird meist auf die Beamten angewandt, die sich aus rein sachlichen Erwägungen dazu entschlossen, der am 9. November 1918 verkündeten Republik ihre Dienste nicht zu verweigern. Auf die Loyalität der Eliten mit ihren Kompetenzen war die Republik dringend angewiesen. Sie mußten gar keine Demokraten sein. Auch Sozialdemokraten wie der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert oder Philipp Scheidemann entschieden sich erst im letzten Moment für die Republik, um das Deutsche Reich vor demokratischen Gewalttätigkeiten zu bewahren, die mit jeder Revolution verbunden sind.

Revolutionäre können gar nicht auf jene schwer zu beherrschenden Elemente verzichten, die man gemeinhin als Straßenpöbel und Mob fürchtete und verachtete. Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann – wie viele andere Politiker – waren Staatsmänner, keine demokratischen Revolutionäre in der Tradition französischer Terroristen von 1794.  Sie dachten an Recht und Ordnung, an eine Staatsform, also an die Republik, die beides schützt.

Radikale Demokraten mißtrauen Institutionen

Eine Republik muß nicht demokratisch sein. Das veranschaulichten die Römische Republik, das klassische Vorbild der italienischen Stadtrepubliken Genua und Venedig oder deutscher Hanse- und Reichsstädte. Demokratie und Republik können sich durchaus ergänzen. Doch die Republik hat es immer mit der Vernunft zu tun. Insofern ist jeder Republikaner selbstverständlich ein Vernunftrepublikaner. Demokraten appellieren hingegen auch an Leidenschaften und Gefühle, an zu verändernde Lebensformen, an damit verbundene Glückserwartungen und allerlei Gemütsergötzlichkeiten, für die der Staat bis tief ins 19. Jahrhundert gar nicht zuständig war. Deshalb mißtrauen radikale Demokraten den Institutionen mit ihren festen Regeln und Gesetzen, die herzlos enthusiastische Aufwallungen an rechtliche Grenzen erinnern, um die Norm und die Normalität davor zu bewahren, erschüttert und allmählich unverbindlich zu werden.

Von der Republik ist heute kaum noch die Rede. Obwohl der deutsche Staat immer noch Bundesrepublik heißt, werden fast ausschließlich und ununterbrochen Demokratie, die Gemeinsamkeit der wehrhaften Demokaten und demokratische Werte beschworen. Es gab einmal ein republikanisches Pathos auch in Deutschland und Italien, nicht nur in Frankreich und den USA. Darauf wird mittlerweile verzichtet. Ganz bewußt. Denn die Republik erinnert an die unteilbare Nation und an den populus, das Staatsvolk in einem bestimmten  Staatsgebiet, mit seinen Staatsbürgern und seinem Staatsrecht. Doch Demokraten kennen keine Bürger mehr, sondern nur noch Menschen – in Deutschland, in Europa und überall in der Welt. Freier Bürger in einem Staat zu sein, der als Rechtsstaat ihre Freiheit garantiert, machte einmal den Stolz aller Republikaner und Liberalen aus, was oft das gleiche meinte.

Aufrichtige Demokraten halten Staatsbürger unverhohlen für peinliche Überreste partikulären Eigensinns, der überwunden werden muß. Als Menschen in Europa rufen sie in ihrer weltoffenen Hymne mit Schiller und Beethoven sämtlichen Menschen begeistert zu: Seid umschlungen ihr Millionen, dieser Kuß der ganzen Welt. Dabei gibt es die allgemeine Menschheitsdemokratie gar nicht, und sie wird trotz aller musikalischen Beteuerungen vorerst eine Fiktion bleiben.

Doch vor Fiktionen müssen wahrhaftige Demokraten nicht verzagen. Sie lassen sich vielmehr wie heilige Mystiker von Visionen ergreifen, die sie von der Erdhaftung befreien und von der Erdenschwere unabhängig machen. Dafür sind ihre charismatischen Führer zuständig, die sie verzückt mit allen, die guten Willens sind, in eine schönere Zukunft hinüberleiten. Vor solchen Unberechenbarkeiten graute den Gründern der USA, die während des 20. Jahrhunderts zum mächtigsten Anwalt totaler Demokratisierung in der zu vereinheitlichenden Welt mit der einen Menschheit geworden sind. 

Alexander Hamilton oder Thomas Jefferson, die großartigen Begründer der republikanischen Legitimität, waren als  Angehörige einer britisch-aristokratischen kolonialen Elite davor gefeit, einen naiven Demokratismus freischwebender Gefühle mit der anspruchsvollen Idee der Freiheit des Einzelnen im freien Staat zu verknüpfen. Staat und Recht, nicht Poesie, die heute in der Wertgemeinschaft üppig gedeiht, bewahrten jeden vor demokratischen Übertreibungen und der Willkür wechselnder  Mehrheiten. Die Republik mit ihren Einrichtungen im repräsentativen Parlamentarismus sollte Sicherheit vor der möglichen Tyrannei ahnungsloser und anmaßender Volkstribunen gewähren.  Hamilton und Jefferson, erfahrene Praktiker, waren vertraut mit den klassischen Ratschlägen griechischer Philosophen und römischer Senatoren, wie man das von Leidenschaften beunruhigte Volk am besten vor sich selber schützt.

Informierte Bürger sollten zu Repräsentanten werden

Diese ungebärdige, buntscheckige Menschenmenge mußte von einer aufgeklärten Regierung gezügelt, von einer vernünftigen Elite regiert und verwaltet werden. Beide hatten sich darum zu bemühen, erst einmal Interesse für politische Fragen zu erwecken. Produzenten öffentlicher Meinungen – Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten – hatten dafür zu sorgen, daß gut informierte und kompetente Bürger zu überzeugenden Repräsentanten des insgesamt unsichtbaren Volkssouveräns wurden. Freiheit braucht Ordnung. Sie setzt nach alter, klassischer Erfahrung besonnene Bürger voraus, die den stets unzulänglichen Menschen überwinden und lernen, sich selbst zu beherrschen, um nicht von plötzlichen Einfällen überwältigt zu werden.

In diesen hohen Erwartungen wurden die amerikanischen Vernunftrepublikaner alsbald enttäuscht. Den Geistes-aristokraten wurde von konsequenten Volkstribunen wie Andrew Jackson, von 1829 bis 1837 Präsident, vorgeworfen, das Volk, von dem sie keine Ahnung hätten, zu bevormunden. Er war der erste demokratische Populist und blieb unvergessen.

Das gut unterrichtete Publikum, auf das die frühen Republikaner ihre Hoffnungen setzten, erwies sich als trügerische Hoffnung. Der Republik fehlte eine wichtige Voraussetzung zu ihrem glücklichen Gelingen: nämlich eine öffentliche Meinung, die mit der Wirklichkeit in engem Zusammenhang stand. Das beunruhigte den großen US-amerikanischen Journalisten und Medienkritiker Walter Lippmann. In immer wieder neuen Anläufen schilderte er seit 1922, wie nicht nur in den USA Weltbildfabrikanten beliebige Bilder und Interpretationen von Bildern lieferten, Trugbilder, also Fiktionen schufen, mit denen die US-Amerikaner lebten und die sie daran hinderten, sich untereinander zu verständigen. Seine illusionslosen Beobachtungen haben ihre Gültigkeit nicht verloren. Die Wirklichkeitsproduzenten entwerfen ein Bild der Wirklichkeit, ohne diese selbst zu kennen. Wie jeder Mensch sehen auch sie nur Teile einer möglichen Wahrheit, die sie entsprechend ihrer Interessen, Verleger oder politischen Freunde präparieren, vor allem dramatisieren. 

In der arbeitsteiligen Welt mit ihrer unvermeidlichen Monotonie bedarf es schon greller Effekte, um überhaupt die Aufmerksamkeit vieler für ein Thema  gewinnen zu können. Die unterschiedlichen Medien sind unentbehrliche Mittel für alle jene, die öffentlich wirken wollen, also vor allem für die Politiker. Sie sind der Wirklichkeit ebenso entrückt wie die Journalisten und weichen deshalb in ganz neue Tätigkeiten aus, die Zukunft zu gestalten und verlockende Ziele für Menschen zu entwerfen, die – ihnen gleich – wie die Butter auf der heißen Kartoffel schwimmen.  Unter solchen Bedingungen fällt es sehr schwer, die im Volk verbreiteten Stimmungen aufzugreifen und sie geschickt für die Regierungsarbeit zu nutzen. Deshalb flüchten die Ratlosen jetzt mit solcher Intensität in Werte und Wertgemeinschaften, die ihnen Halt geben sollen am Ende aller Sicherheit, von dem Walter Lippmann so eindringlich gesprochen hatte.

Wertegemeinschaften gewinnen keine Stabilität

Aber Werte sind immer beweglich je nach den Interessen der Wertsetzer, die andere Werte umwerten, abwerten und entwerten, um ihre auf diese Art aufzuwerten. Demokratische Wertegemeinschaften gewinnen darüber keine Stabilität. Erklären wertbewußte Demokraten Verfechter anderer Werte für wertverwahrlost und damit als Feinde der Demokratie, erschüttert ein solches Verhalten durchaus den inneren Frieden. Wehrhafte Demokraten wollen keine Toleranz den Intoleranten gewähren, wobei sie bestimmen, welche Gedanken und Verkünder von Gedanken für sie unerträglich sind. Gedanken sind nicht mehr frei. Die Gleichheit unter Demokraten stößt an Grenzen. Ein schlechter oder nur unzulänglicher Demokrat wird von den Gleichen als Ungleicher behandelt. 

Ein solches Verhalten widerspricht dem Geist der Republik, der zur Neutralität verpflichtet ist. Freiheit und  Ordnung beruhen nicht auf Werten.  Der republikanische Rechtsstaat und seine Institutionen sind auf Staatsbürger und nicht auf sogenannte Menschen und Werte angewiesen. Die freiheitliche Grundordnung und  Rechtsordnung werden nicht durch beliebige Werte, Gemütsaufwallungen und  am allerwenigsten durch Lärmtrompeten medialer Chefdramaturgen gesichert, sondern allein durch das Recht. Diese Voraussetzung einer demokratisch organisierten  Rechtsordnung gerät allmählich überall in Vergessenheit, zum Schaden für die Demokratie. Denn sie braucht Vernunftrepublikaner, um sich wohltätig weiterentwickeln zu können.