© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Das Kind und seine Bedeutung für die katholische Sexuallehre
Ohne Ehe keine Zeugung
Hans-Bernhard Wuermeling

In Unterhaltungen und der öffentlichen Diskussion steht die Frage nach der Methode zum Praktizieren von Empfängnisverhütung völlig im Vordergrund, während die Frage nach der Verhütung überhaupt, weil zu schwierig, kaum beachtet wird. Die Methodenfrage ist demgegenüber aber sekundär. Sie kann nur gelöst werden, wenn die Frage nach der generellen Zulässigkeit der Empfängnisverhütung gelöst ist.

Das letzte Rundschreiben Papst Pauls VI., „Humanae Vitae“ ist vor nunmehr 50 Jahren veröffentlicht worden. Aber warum ist „Humanae Vitae“ 1968 einfach nicht angekommen? Und bloß als „Pillen-Enzyklika“ verächtlich gemacht worden? Weil bereits seit der Enzyklika „Casti Connubii“ von Papst Pius XI. (1930) über die Frage der moralischen Berechtigung oder Verpflichtung zur Vermeidung einer Empfängnis seitens der Kirche sehr wenig gesprochen wurde, um so mehr aber über erlaubte und verbotene Methoden der Empfängnisverhütung. Das hat zur Folge, daß geglaubt wird, mit Nutzung der periodischen Unfruchtbarkeit erübrige sich jede Diskussion. Und die müßte doch zuerst und vor der Methodenfrage geführt werden.

Bei tieferem Nachdenken zeigt sich, daß Kontrazeption gegen den Lebens- und Vermehrungswillen der biologischen Natur gerichtet ist. Die Kultivierung dieser Natur fordert aber andererseits, das biologische Ziel allen Lebens einzuschränken. Die Gebrochenheit des menschlichen Daseins scheint hier eine glatte Lösung nicht zuzulassen und kann deswegen nur hingenommen werden. In diesem Sinn sind die erforderlichen Kompromisse zu tragen.

Die Vorrangstellung der Zeugung und Erziehung von Kindern (proles) unter den Ehezwecken hat das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) zugunsten einer Aufwertung der bisherigen sekundären Ehezwecke (adiutorium mutuum und vita sexualis) mehr oder weniger deutlich beseitigt. Damit wird aber das Verhältnis des bisher ersten Ehezweckes zu den anderen Zwecken neu auszutarieren sein.

In Artikel 50 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ von 1965 heißt es: „Über die Fruchtbarkeit der Ehe. Die Ehe (matrimonium) und die Liebe der Gatten sind aus sich heraus (indole sua) darauf hingeordnet, Kinder (prolem) zu zeugen und zu erziehen. Gesunde Kinder (filii) sind die hervorragendste Gabe (donum) der Ehe und tragen im höchsten Maße zum Wohle (bonum) der Eltern selbst bei. Gott selbst, der gesagt hat: ‘es ist nicht gut, daß  der Mensch allein sei’ (Gen 2,18), und der ‘den Menschen von Anfang an als Mann und Frau ... erschuf’ (Mt 19,4), wollend, daß sie teilnehmen in besonderer Weise an Seinem Eigenen Schöpfungswerk, sprach (dixit dicens), den Mann und die Frau segnend: „Wachset und mehret euch!“ (Gen 1,28).“

So gesehen trägt die Freude am Kind und seinem Wohlergehen zum Wohlergehen der Gatten bei. Aber auch das Umgekehrte wird der Fall sein.

Dem vierten der Mosaischen zehn Gebote, die Eltern zu ehren, fehlt diese Umkehrung. Es nimmt nur die Kinder in die Pflicht. In gewisser Weise wird in „Gaudium et Spes“ mehr davon, also von der Kindespflicht, gesprochen als von den weniger betonten Elternpflichten. Diesen aber mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen verlangen die Erkenntnisse über die Entwicklung der Kinder und die Bindungsforschung.

Bedarf ein Kind über die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse wie Nahrung, Reinigung und Wärme hinaus weiterer Hilfen für das Gelingen seines Lebens? Es wird in eine ihm fremd und gefährlich erscheinende Welt geboren. Bei der Erkundung dieser Welt gewinnt es um so mehr Freiheit und Mut, als es sich gefahrlos in einen Raum zurückziehen kann, in dem es erste Verläßlichkeit erfahren hat, nämlich, daß da jemand oder etwas ist, dem es die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und das Gefühl der Sicherheit verdankt, durch seine Eltern.

So bedarf das Kind neben der Beispielgeber auch der Vertrauensvermittler. Auf seine verheirateten Eltern hat es aber einen moralischen Anspruch. Werden ihm diese böswillig oder fahrlässig verwehrt, dann werden ihm diesbezügliche Rechte vorenthalten.

Für die Sprachentwicklung scheinen beispielsweise Spiegelneuronen mit verantwortlich zu sein, die im kindlichen Gehirn das neuronale Programm zum Aussprechen eines Wortes oder Tones oder Satzes aus dem mütterlichen Gehirn via dessen akustische oder erklärende Verwirklichung einspiegeln. Das Kind kann damit selbst diese Verwirklichung nachahmen. Mehrfache Wiederholungen sorgen für die Optimierung dieses Vorganges. Dieser kann gleichsam als Urform der alten pädagogischen Weisheit betrachtet werden: „Verba docent, exempla trahunt; Worte belehren, Beispiele ziehen.“ Die Folgerung aus dieser und mancherlei parallelen Überlegungen ist, daß Kinder für ihre Entwicklung von Anfang an eines Beispielgebers bedürfen, zu Anfang für Grundfunktionen ihres Lebens und später für ihre geistige Entwicklung.

Wenig beachtet wird, daß es für sein Erkundungsverhalten einer verläßlich bereitstehenden Rückzugsbasis bedarf. Für Primaten wurde das bereits vor einem halben Jahrhundert von Spitz tierexperimentell eindrucksvoll nachgewiesen. Der von einem Jungtier „eroberte“ Raum erweiterte sich in dem Maße, in dem das Muttertier als solches erkennbar und räumlich noch erreichbar war. Die Übertragbarkeit solcher Verhältnisse auf den Menschen ist in den letzten Jahren mehrfach experimentell nachgewiesen worden. Auch der Mensch bedarf von Anfang an und in gewisser Weise lebenslang jeweils verläßlicher Rückzugsräume, in denen Vertrauen und Verläßlichkeit gelebt wird (siehe die Geschichte des verlorenen Sohnes im Alten Testament!).

Es sind jeweils Personen, die diese Verläßlichkeit bieten. Als Alleinerziehende praktizieren sie das wohl oder übel in einem defizitären System, weil sie ihren Kindern eine nur auf eine Person bauende Sicherheit bieten können. Daß diese Sicherheit auch in einem heterosexuellen Familiensystem Vater, Mutter, Kind nicht garantiert ist, bedarf keiner Erwähnung. Aber daß es keine bessere, auch nach außen abgesicherte treue Verbindung der Sichernden gibt als die lebenslange Ehe, versteht sich. Die Tatsache, daß es vielen Alleinerziehenden durchaus gelingt, ihren Kindern auch ohne angetraute Gatten als gute Beispielgeber zu wirken, kann das Erfordernis der Sicherheit des Rückzugsraumes durch verläßlich verbundene Eltern nicht ersetzen.

Des weiteren muß das Kind Vertrauen erlernen und von Mißtrauen unterscheiden. Mit der Geburt wird es plötzlich und unter Schmerzen aus einer fraglosen Geborgenheit in eine fremde, kalte, Bedürfnisse massiv erlebende und unvertraute Welt geworfen, in der es ohne fremde Hilfe nicht überleben kann. Wenn es dennoch überlebt, dann nur deswegen, weil Umsorgtsein seine Ängste mildert und wenn dessen Regelmäßigkeit ihm einen Teil der chaotischen Welt etwas vertrauter werden läßt.

So bedarf das Kind neben der Beispielgeber auch der Vertrauensvermittler. Auf beide hat es aber einen moralischen Anspruch, da diese die jeweils bestmöglichen Bedingungen seiner Aufzucht sind. Werden ihm diese böswillig oder fahrlässig verwehrt, dann werden ihm diesbezügliche Rechte vorenthalten. Machen sich die dafür Verantwortlichen einem Kind gegenüber nicht schuldig, und zwar bei jedem Geschlechtsverkehr außerhalb einer Ehe, bei dem die Zeugung eines Kindes nicht sicher vermieden wird?

An dieser Stelle ist juristisch einzuwenden, daß ein nicht existierendes, weil noch ungezeugtes Kind kein Jemand ist, gegenüber dem man schuldig werden könne. Demgegenüber macht Jörg Paul Müller, emeritierter Ordinarius für Staatsrecht in Bern, geltend, das Kindeswohl sei Prinzip des Verfassungsrechtes („Recht auf Reproduktion?“, in: NZZ, 16. Juli 2018). Er verwies auf die Uno-Kinderrechtskonvention, dem Kindeswohl sei bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, Vorrang einzuräumen. Das Argument sei wenig tragfähig, daß dies nur für lebende Kinder gelte, nicht aber für erst zu zeugende. Die umfassende Garantie der Menschenwürde schließe die Würde der Menschheit und zukünftig Lebender ein. Diese Forderung habe Verfassungsrang.

Wer „Humanae Vitae“ nur als ein unverständliches Pillenverbot versteht, sollte wagemutig über seinen Tellerrand hinausblicken und erkennen, daß es in diesem Dokument um mehr geht als eine kleinliche und vielleicht willkürliche Moralvorschrift.

Daraus folgt, daß die Erzeugung eines Kindes, ohne für Beispielgeber und Vertrauensvermittler Sorge zu tragen, die Rechte des einzelnen Kindes mindert. Konkret bedeutet das, daß außerehelicher Geschlechtsverkehr ohne Vermeidung einer Empfängnis schon aus anthropologischen (und nicht erst aus religiösen) Gründen zu verurteilen ist. Konsequenterweise beschränkt sich damit das moralische Recht, ein Kind zu zeugen, letztlich auf jeweils rechtsverbindlich verbundene Paare, hierzulande auf Ehepaare.

Den verläßlichen Raum erlebt nämlich das Kind nur dann, wenn es sein Elternpaar als unzertrennlich empfindet, also am besten verheiratet. Defekte Verhältnisse sind suboptimal. Sie sind dann Verkürzungen der Rechte eines Kindes auf optimale Einführung in das Leben, wenn sie von vornherein absichtlich geduldet oder herbeigeführt werden.

Ich folgere daraus, wenn man das ernst nimmt: Die Erzeugung eines Kindes außerhalb einer Ehe verkürzt das Kindesrecht und ist in erster Linie deswegen zu verurteilen. Dem gegenüber sind andere Gründe, auch solche religiöser Art, sekundär. Deswegen ist die Vermeidung einer Zeugung eines Kindes bei jedem nichtehelichen Verkehr aus anthropologischen Gründen geboten. Diese Forderung deckt sich mit der der Liberalen: kein Kind beim Sex! Ob die Verhütung dabei auf natürliche Art und Weise erfolgt oder nicht, geht die Kirche nichts an (ausgenommen Tötung!).

Es kommt mir darauf an, die kirchliche Lehre über Ehe und Sexualität zunächst einmal natürlich und mit den Ansprüchen eines Kindes zu begründen, damit sie auch den religiös Unmusikalischen zugänglich wird, denen der Zugang deswegen erschwert ist, weil sie darin nur Religiöses wittern.

Das sind sehr weitgehende und ungewohnte Forderungen. Ihre Rechtfertigung hängt davon ab, wie belastbar die anthropologischen Erkenntnisse sind, die den Ruf nach Beispielgebern und Vertrauensvermittlern rechtfertigen. Hierüber wird es zu erbitterten Auseinandersetzungen kommen, weil die Liberalisierungen im Bereich der Sexualität und der Weitergabe des menschlichen Lebens (humanae vitae traditio) so süchtig machen wie Drogen.

Wird es der derzeitigen Elterngeneration gelingen, mit ihrem Beispiel und der Vermittlung von Vertrauen wenigstens einen Teil der folgenden Generation vor den Versuchungen der genannten Liberalisierungen zu schützen? Das wird gelingen, wenn sie Freude und Hoffnung, Gaudium et Spes, an der kultivierten Natur zu erwecken versteht.

Wer „Humanae Vitae“ nur als ein unverständliches Pillenverbot versteht, sollte wagemutig über seinen Tellerrand hinausblicken und erkennen, daß es in diesem Dokument um mehr geht als eine kleinliche und vielleicht willkürliche Moralvorschrift. Vielmehr geht es darum, ob  wir Gegenwärtigen den Fortbestand der Menschheit wollen – oder nach uns die Sündflut und damit das Ende der Geschichte? Ob wir die Weitergabe des Lebens der Menschheit (Humanae vitae traditionem) wollen – oder ein Ende das Lebens der Menschheit (Humanae vitae finem).

Der Philosoph Hans Jonas schrieb einmal, daß der Anblick des hilflosen neugeborenen Kindes im Menschen die Pflicht zum Helfen und Sorgen erwecke, und daß das der nicht weiter hinterfragbare Grund aller Ethik sei. In diesem Sinne sollte die Kirche zunächst argumentieren, damit es jedermann verstehen und akzeptieren kann.

Im 5. Buch Mose (Deuteronomium 30, 19) heißt es: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen!“






Prof. Dr. med. Hans-Bernhard Wuermeling, Jahrgang 1927, war Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer und bis zu seiner Emeritierung Lehrstuhlinhaber für Rechtsmedizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 2012 erhielt er die Paracelsus-Medaille, die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft. 

Foto: Familie: Den verläßlichen  Raum erlebt ein Kind nur dann, wenn es seine Eltern als unzertrennlich empfindet, also am besten verheiratet