© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Abschmelzen aller Traditionen
Geschichtliche Säuberung: Deutsche Quartärvereinigung „entpersönlicht“ ihre Albrecht-Penck-Medaille
Wolfgang Müller

Gegenstand der Quartär-Forschung ist das jüngste, vom Wechsel kürzerer Warm- und längerer Kaltperioden geprägte Erdzeitalter, das vor 2,8 Millionen Jahren begann. Schon 1948 schlossen sich darauf spezialisierte Geologen zur Deutschen Quartärvereinigung (DEUQUA) zusammen. Jedoch schaut die heutige Vereinsführung auf diese lange Tradition nicht gerade mit Stolz zurück. Vielmehr ist sie bemüht, einen Teil ihrer offenkundig als Last empfundenen Geschichte zu vergessen.  

Denn auf der letzten Mitgliederversammlung Ende September in Gießen  entschied man sich dafür, zukünftig die seit 1958 vergebene Albrecht-Penck-Medaille und den seit 1998 verliehenen Paul-Woldstedt-Preis für hervorragende Dissertationen von ihren Namensgebern zu „befreien“. Der Freiburger Sedimentologe Frank Preusser, derzeitiger DEUQUA-Präsident, begründete diese „Entpersonalisierung“ der Ehrungen gegenüber der JUNGEN FREIHEIT damit, daß man fortan „die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die heutigen Preisträger konzentrieren“ wolle, um sie nicht auf „Personen“ zu lenken, nach denen die Preise „einst“ benannt worden seien. Eine zwar originelle, aber vermutlich weder vom schwedischen Nobel-Komitee noch etwa vom Koordinierungsrat der deutschen Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der die Buber-Rosenzweig-Medaille verleiht, für nachahmenswert gehaltene Idee.

Tatsächlich dürfte die Änderung der Vergabepraxis anders motiviert sein. Der Stein des Anstoßes heißt Albrecht Penck (1858–1945). Um dies zu kaschieren, opferte der Vorstand zugleich den Namen von Paul Woldstedt (1888–1974), einem Mitbegründer der DEUQUA, obwohl dieser „Nestor der Eiszeitforschung“ nicht einmal ansatzweise als so „politisch umstritten“ gilt wie Penck.

Dessen kometenhafter Aufstieg als Geowissenschaftler hatte den gebürtigen Sachsen über die Wiener Lehrkanzel für Physische Geographie 1906 nach Berlin geführt, wo er als Direktor des Geographischen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität die Nachfolge des ebenfalls in die Sphäre des Weltruhms vorgestoßenen China-Forschers Ferdinand von Richthofen antrat. In Berlin beendete Penck sein dreibändiges Hauptwerk „Die Alpen im Eiszeitalter“ (1901–1909), das bis heute in der Quartär-Forschung gültige Einsichten vermittelt. Penck baute sein Institut zum internationalen Zentrum der Geographie aus und bekleidete Gastprofessuren in den USA. Der international renommierte Wissenschaftler häufte Ämter und Ehrungen an, sogar ein Viertausender auf dem Mond (Mons Penck) nahe der späteren Landestelle von Apollo 16 trägt seinen Namen, ebenso wie ein Gletschergebiet in Neuseeland und mehrere Regionen in der Antarktis. Auch nach der Emeritierung (1926) blieb Penck hyperaktiv, unterstützt von Privatassistenten, unter denen der spätere NS-Widerstandskämpfer Albrecht Haushofer (1903–1945) der bekannteste ist. In der NS-kritischen Mittwochsgesellschaft war Penck in den dreißiger Jahren ebenso wie Haushofer ein oft gesehener Gast.

Als „Vordenker der Vernichtung“ denunziert

Schon während des Ersten Weltkrieges interessierte sich der Geomorphologe verstärkt für anthropogeographische Probleme, die seinem Fachgebiet dann unter den Bedingungen des Versailler Vertrages, angesichts der dem Reich abgepreßten Gebietsabtretungen und daraus resultierender Minderheitenkonflikte, ein Höchstmaß an politischer Relevanz verschafften. Als Präsident der 1926 gegründeten Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung bezog der Gelehrte daher eine exponierte Position an der Nahtstelle zwischen Wissenschaft und Politik, wo Natur- und Kulturwissenschaftler sich für Gustav Stresemanns Außenpolitik mobilisieren ließen, die auf die – wohlgemerkt – friedliche Revision der oktroyierten Versailler Grenzen zielte.

Seit den frühen fünfziger Jahren drückten DDR-Historiker, die wenig Skrupel kannten, sich selbst auf „Parteilichkeit“ unterm SED-Joch zu verpflichten, dem politikberatenden Engagement Pencks und seiner akademischen Mitstreiter den kräftigen Stempel „Revanchismus“ auf und bastelten hingebungsvoll an „Kontinuitäten“ zwischen dem wilhelminischen „Imperialismus“, Stresemanns Revisionismus, NS-„Lebensraum“-Phantasien und den „revanchistischen“ Vertriebenenverbänden des „Adenauer-Staates“. 

Als die Mauer endlich fiel, gerieten solche plumpen Agitprop-Konstruktionen nicht etwa außer Kurs. Vielmehr sollte ihnen unter der platten Parole „Vordenker der Vernichtung“ (Götz Aly, 1991) dank der gierig aufs „antifaschistische“ Erbe der DDR zugreifenden Historiker der Berliner Republik eine glänzende neue Konjunktur beschieden sein. In deren „schuldkulturell“ radikalisierten Wissenschaftsgeschichten, von Bismarck zu Hitler, führten nun alle Wege direkt nach Auschwitz.

Nachdem Götz Aly schon einige Geographen gestreift hatte, folgte 1999, zum 52. Deutschen Geographentag, ein von Michael Fahlbusch vorgetragener Frontalangriff auf die Fachvertreter der Zwischenkriegszeit. Penck figurierte dabei als Hauptangeklagter, den Fahlbusch in seiner, übelste SED-Hetze locker übertrumpfenden Suada der „Mittäterschaft am Völkermord der Nationalsozialisten“ bezichtigte. Pencks Volks- und Kulturbodenforschung sei „anschlußfähig“ an die Lebensraumideologie gewesen und viele seiner Schüler hätten ab 1933 eine „verbrecherische Politik“ exekutiert. Dieses Anklage und Todesurteil kombinierende Pamphlet (Frankfurter Rundschau, 2. Oktober 1999) wird von Wissenschaftshistorikern der Geographie seit nunmehr bald zwanzig Jahren weitgehend unkritisch kolportiert. Es half auch nicht, daß ein linksliberaler Historiker wie Wolfgang J. Mommsen zutreffend urteilte, Pencks Volks- und Kulturbodentheorie habe mit dem Nationalsozialismus „ursprünglich überhaupt nichts zu tun“.

Immerhin fühlte sich ein seit 1980 eifrig zum Thema publizierender West-Berliner „Wegbereiter“ der „Vordenker“-Ideologie, der emeritierte Geograph Hans Dietrich Schultz, jetzt bemüßigt, den „Fall Penck“ im DEUQUA-Organ E & G Quaternary Science Journal (66/2018) neu aufzurollen. Mit sonst bei Schultz, dessen Beiträge zur Fachgeschichte sich stets ins Schwarz-Weiß-Schema von Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ (1961) fügten, eher seltenem Differenzierungsvermögen kommt viel „Entlastendes“ auf den Tisch: Albrecht Pencks große Distanz zur Geopolitik, zum alldeutschen Expansionismus, zu NS-Ideen über Lebensraum und Rasse. Ein „Lebensraumkrieger“ und „Wegbereiter im vernichtungspolitischen Sinne“ sei er gewiß nicht gewesen. Was bei einem deutschen Mandarin, der dem weltbürgerlich gestimmten 19. Jahrhundert entstammte, auch nicht verwundert. 

Führungseliten des „alten Deutschland“ im Visier

„Absolution“ erteilt Schultz ihm trotzdem nicht. Weil eine unauslöschliche Schuld bleibt: der fehlende Wille zur nationalen Selbstabschaffung. Nichts anderes klagt Schultz an, wenn er kontrafaktisch Geschichte klittert und dem Geographen, stellvertretend für die Führungseliten des „alten Deutschland“, vorhält, sich nicht einfach mit dem „Status quo der Nachkriegsordnung“ von 1919, dem „friedlichen Miteinander der Völker“ abgefunden und den „Dialog“ mit den Friedensfreunden in Warschau und Paris gesucht zu haben! Darum erinnert jetzt keine Medaille mehr an Albrecht Penck, der das Lob der Grenzen sang, Völker nach ihrer Kulturhöhe unterschied und das vielfältige Pluriversum der Nationen nicht durch eine monotone „One World“ ersetzt wissen wollte.