© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/18 / 26. Oktober 2018

Urlaub neben dem AKW-Schrott
„Dunkler Tourismus“ führt Menschen an Orte, die von Tod und Gefahren geprägt sind
Heiko Urbanzyk / Gil Barkei

Einmal einen illegalen Grenzübertritt in Lateinamerika mitmachen, eine Voodoo-Opferzeremonie in Afrika erleben oder das berühmte Riesenrad in Tschernobyl sehen. Während die meisten Menschen bei dem Wort „Traumurlaub“ wahrscheinlich eher an ein Alpenpanorama, eine Gondelfahrt durch Venedig oder an das türkisfarbene Meer eines maledivischen Atolls denken, sind Anhänger des „Dark Tourism“ von Orten fasziniert, an denen es zu Tod, Leid und Elend kam.

In Los Angeles wird beispielsweise eine „Helter-Skelter-Tour“ auf dem leichengepflasterten Weg von Charles Manson und der „Manson Family“ angeboten. Die Tour ist wie viele andere Angebote, die auf den Spuren von Serienkillern wandeln, oft ausverkauft. Auch „Urlauber“, die Selfies knipsen vor der in Italien gekenterten Costa Concordia, vor dem Anwesen des früheren kolumbianischen Drogenbosses Pablo Escobar in Medellín oder vor dem Straßenzug des Anschlags auf John F. Kennedy, sind dunkle Touristen. 

Die Faszination des Reisetrends kennt auch keinen Halt vor der Selbstgefährdung. In Kasachstan können Abenteurer in einem Kratersee schwimmen, der durch einen Atombombentest verursacht wurde. Im japanischen Fukushima lädt sogar die Regionalregierung auf der Internetseite real-fukushima.com die Urlauber dazu ein, das heutige Sperrgebiet nach der Nuklearkatastrophe im Kraftwerk Fukushima Daiichi im Jahr 2011 zu besuchen. Nur neun Kilometer vom Ort der Reaktorkernschmelze entfernt eröffnete eigens das Tomioka Hotel. Für rund 40 Euro können sich Touristen auf eine vierstündige Tour mit englischsprachigem Führer begeben. Neben dem Bereisen verwaister Dörfer gehört ein Blick auf das Kraftwerk dazu – das Knattern des Geigerzählers immer wieder im Ohr. Warnung, Gedenken, aber auch Stolz auf Schaffenskraft und Wiederaufbau spiegeln sich in dem ungewöhnlichen Ausflugsprogramm wider – typisch japanisch.

Verschwimmende Grenzen zum Massentourismus

Den Dark Tourism erforscht in Deutschland der Reiseblogger Peter Hohenhaus. Seine Netzseite dark-tourism.com ist mitunter auch mal nicht erreichbar, weil es zu viele Zugriffe auf sie gibt. 700 Schreckens- und Schicksalsorte in 90 Ländern hat Hohenhaus besucht – vom früheren Gefängnis der Roten Khmer in Kambodscha bis zum Flughafen Entebbe in Uganda, der 1976 Ort einer Geiselnahme wurde. Diese Form des Tourismus hält er für legitim, ermahnt die Reisenden aber zum Respekt vor dem Geschehenen. „Bei Dark Tourism geht es um Vergangenes und um Memorialisierung“, erklärte er dem österreichischen Standard. Von affigem Verhalten in Konzentrationslagern oder anderen Gedenkstätten hält er gar nichts. Ebenso spricht er sich gegen Voyeurismus an gegenwärtigem Leid, zum Beispiel in Elendsvierteln aus. Dabei gehört für viele Brasilienbesucher beispielsweise eine kurze Visite in einer Favela Rios zum Reiseplan.

Wie eng der dunkle schon mit dem üblichen Massentourismus verbunden ist, zeigen auch die zahlreichen „Jack The Ripper“-Touren in London, die wie Madame Tussauds vielfach Teils des üblichen Programms für einen Aufenthalt in der britischen Hauptstadt sind. Ebenfalls erscheint ein Wochenende in Berlin ohne Mauerreste-Hopping genauso verfehlt wie eine Reise nach Rom ohne das Kolosseum erkundet zu haben. Und ein Spaziergang durch Manhattan, ohne sich Ground Zero anzuschauen? Längst hat die Branche ihre eigenen Reisemagazine im Fernsehen. Auf Netflix startete in diesem Jahr zum Beispiel die Reihe „Dark Tourist“. Die Grenzen zwischen Blut- und Pauschaltourismus sind zunehmend fließend. So darf der Besucher des Hermannsdenkmal sich auch ganz trendy als „dunkler Tourist“ der Varusschlacht fühlen.