© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/18 / 02. November 2018

Im letzten Moment gestoppt
Bosnien-Herzegowina: Migranten stürmen auf Grenze / Anwohner verlieren die Geduld
Hans-Jürgen Georgi

Es brodelt im Kanton Una-Sana. Hier im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas (BiH), an der Grenze zu Kroatien, nur 50 Kilometer vom Schengenland Slowenien entfernt, leben seit Monaten über 4.000 illegale Migranten und warten auf den Sprung gen Westen. Mitte vergangener Woche schien für einige dieser Zeitpunkt gekommen. 

Am 23. Oktober stürmte eine Gruppe von 200 bis 250 Migranten auf den Grenzübergangspunkt Velika Kladuša – Maljevac zu, um nach Kroatien und damit in die ersehnte EU zu kommen. Die bosnische und die kroatische Grenzpolizei konnte sie im letzten Augenblick stoppen. Seitdem kampierten dort kleinere Gruppen. Der Grenzübergang war für mehrere Tage gesperrt. Wenngleich dieser Sturm doch recht plötzlich kam – daß etwas passieren würde, damit hatten die Behörden gerechnet.

In der Stadt hausen sie in Zelten und Bauruinen

Seit Beginn des Herbstes war es für die vier- bis fünftausend Migranten, die sich hauptsächlich in der Kantonshauptstadt Bihac und der kleinen Grenzstadt Velika Kladuša aufhalten, im wahrsten Sinne des Wortes ungemütlich geworden. Bei niedrigen Temperaturen hausten die meisten von ihnen in Zelten in Grünanlagen oder in alten Gebäuden, wie dem Schülerheim „?acki dom“ am Rande von Bihac. Dieses „Schülerheim“ ist eine Bauruine, nie fertiggestellt und deshalb ohne Fenster und Türen, aber mit einem defekten Dach. Die Bedingungen waren sehr schlecht, die dort Untergekommenen dementsprechend unzufrieden.

Unzufrieden sind allerdings auch die zumeist muslimischen Bewohner der beiden Städte. Sie hatten in Briefen an Poliker gebeten, diese Zustände abzustellen. Obwohl der Sicherheitsminister von BiH, Dragan Mektic, schon Mitte September erklärt hatte, daß Mittel von neun Millionen Euro bereitstünden, passierte wenig bis nichts. So platzte den Bewohnern von Bihac am 19. Oktober der Kragen und Bürgervereinigungen riefen zu Protestkundgebungen auf. Einer der Organisatoren klagte gegenüber einer dortigen Zeitung, daß Migranten in private Häuser und Schulen einbrechen würden und Grünflächen straffrei besiedelten, die die eigenen Bürger nicht einmal betreten dürften. Sie würden nicht ermahnt, weil man angeblich ihre Identität nicht kenne. „Unsere Leute warten mehrere Jahre auf ein Visum für Deutschland, aber die gehen ohne Dokumente hin, wohin sie wollen“, beschwerte sich der Gymnasiallehrer Sej Ramic.

Hatten die Bewohner des Una-Sana-Kantons anfangs viel Verständnis aufgebracht – vielen war während des Jugoslawien-Kriege ähnliches widerfahren – so schwand angesichts der üblen Zustände dieses Verständnis. „Die Mehrheit von ihnen sind keine Flüchtlinge, sondern es handelt sich um junge Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren, ohne Mädchen, Frauen, Schwestern und Familie“, stellte Sej Ramic fest. Busse und Züge, die nach Bihac kommen, sind mit Migranten überfüllt, so daß Einheimische keinen Platz mehr finden. Im August kamen 1.866, im September 2.765 und im Oktober seien es noch mehr gewesen, meinte Ramic.

In vier Monaten wurden allein in Bihac 250 Straftaten von Migranten begangen. „Mordversuche, Vergewaltigungen, Raub und Diebstahl von Wertsachen sind alltäglich, und in den Schulen nehmen sie den Kindern Mobiltelefone, Geld, Garderobe ab und fallen in Häuser ein“, sagte ein Polizeikommissar in einer TV-Sendung. Auch Meldungen von Ende September, wonach zwei Flüchtlinge in Sarajevo mit Waffen entdeckt worden sind, waren nicht verständnis- und vertrauenerweckend. Die Stimmung sei inzwischen so, daß die Migranten „zu begreifen beginnen, daß sie nicht willkommen sind“, stellte eine Sarajevoer Zeitung Ende September fest.

Der Unmut machte sich am Abend des 20. Oktober Luft, als einige hundert Bihacer nach einer friedlichen Versammlung den Busbahnhof blockierten und nach ankommenden Migranten suchten. Die Polizei stellte Spezialkräfte bereit, um eine „Eskalation und Anarchie“ zu verhindern. Die Einwohner von Bihac und Velika Kladuša betrachten die Migranten immer mehr als ungebetene Gäste und beobachten sie kritisch. Kurz vor dem Marsch der Migranten auf die Grenze stellten die Einwohner von Velika Kladuša ihre Vermutungen an: „Vor ein paar Tagen bemerkten wir Leute, die um Migranten herumschlichen und die ihnen sagten, daß sie über die Grenze können. Das sind irgendwelche Freiwilligen.“ Daß der Marsch auf die Grenze nicht zufällig war, bestätigte sich, als am 23. Oktober ein 38jähriger Iraker namens Ali Muhyi Husein Al Ali in Bihac festgenommen wurde.

Das gestreute Gerücht: Kroatien öffne die Grenze

Er hatte Migranten angestiftet, die Grenze mit Gewalt zu überqueren. Dem Iraker war 2014 Asyl in Kroatien gewährt worden, das ihm wieder entzogen werden soll, weil er im September in Sarajevo wegen Menschenschmuggels verhaftet wurde. In der gleichen Zeit, als er unter den Migranten in Bihac agitierte, passierte ähnliches in anderen Flüchtlingszentren in BiH, aber auch in Serbien.

Und so versammelten sich auch vor anderen Grenzübergangspunkten Migrantengruppen. Ein Gerücht war gestreut worden: Kroatien öffne seine Grenzen. Doch die blieben weiterhin verschlossen. Da in diesem Jahr mehr als 15.000 Migranten in BiH registriert wurden, sich schätzungsweise aber nur noch 5.000 bis 6.000 in Bosnien-Herzegowina aufhalten, dürfte es jedoch mehr als 10.000 Illegalen gelungen sein – trotz der guten Sicherung der EU-Außengrenze durch Kroatien – nach Österreich, Frankreich und vor allem nach Deuschland zu kommen.