© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/18 / 02. November 2018

Ein kopfloses Durcheinander
Vor einhundert Jahren revoltierten in Kiel Matrosen und Arbeiter: Wie der Sozialdemokrat Gustav Noske versuchte, das Chaos des Umsturzes einzuhegen
Karlheinz Weißmann

Die offizielle Geschichtspolitik sieht im Kieler Matrosenaufstand ein wichtiges Datum: eines der seltenen Beispiele von Zivilcourage in unserer Vergangenheit, eine Art vorgezogenes „Aufstehen gegen Rechts“. Diese Deutung steht in scharfem Kontrast zu der eines Zeitzeugen, des Sozialdemokraten Gustav Noske, der die Ereignisse zwischen dem 1. und dem 10. November 1918 als „kopfloses Durcheinander“ bezeichnet hat, eine Menge hysterischer Ausbrüche, haltloser Gerüchte und realitätsferner Schwärmereien. Noske bestritt nicht, daß unter den Meuterern auch aufrichtige Idealisten waren, aber für die meisten gebe es nur ein Urteil: „Streber und Demagogen (...), übelste Charaktere“, darunter auch solche, die in verantwortliche Stellen kamen und deren Haltung Noske als „nationale Verlumpung“ bezeichnete.

Eine revolutionäre Führung war in Kiel nicht vorhanden

Daß Noske bei den Ereignissen in Kiel eine ausschlaggebende Rolle spielen sollte, hatte ganz wesentlich mit der Entwicklung seit dem Oktober 1918 zu tun: der Bildung der neuen Reichsregierung unter Einbeziehung der Sozialdemokraten und dem Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen mit den Gegnern Deutschlands. Zu den Bedingungen, die die Entente stellte, gehörte auch die Auslieferung der deutschen Kriegsflotte. Eine Forderung, die die Spitze der Marine empörte. Im Umfeld der Seekriegsleitung entwarf man deshalb den Plan, die nach wie vor intakten Hochseeverbände in eine Entscheidungsschlacht gegen die Royal Navy zu führen.

Der Befehl zum Auslaufen vom 24. Oktober erging ohne Wissen der Reichsregierung und wurde als „streng geheim“ eingestuft. Aber es war selbstverständlich nicht zu vermeiden, daß die Mannschaften nach Beginn der Aktion rasch begriffen, was vorging und sich die Vorstellung festsetzte, die Admiralität wolle einen Untergang „mit wehender Fahne“. In kürzester Zeit kam es auf Schiffen, die vor Wilhelmshaven lagen, zu Befehlsverweigerungen, die damit endeten, daß das Unternehmen in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober aufgegeben wurde. 

Zwar gelang es danach mit einiger Mühe, die Disziplin wiederherzustellen, aber die Entscheidung, das III. Geschwader nach Kiel zu schicken, um die Stimmung weiter zu beruhigen, erwies sich als fatal. Denn die in Kiel angelandeten Matrosen nutzten den großzügig erteilten Landurlaub, um am 1. November im Gewerkschaftshaus und am 2. November unter freiem Himmel große Versammlungen abzuhalten, zu denen viele Arbeiter und in Kiel stationierte Soldaten kamen. 

Unter ihnen fand sich auch Karl Artelt, ein Kolonnenführer in den Torpedowerkstätten von Friedrichsort. Artelt gehörte in das Umfeld der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, einer Linksabspaltung der MSPD, der „Mehrheits-Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“, die sich 1917 im Streit um die Fortsetzung der „Burgfriedenspolitik“ gebildet hatte. Artelt und der Führer der Kieler „Unabhängigen“, Lothar Popp, sorgten dafür, daß es in kurzer Zeit nicht mehr nur um die Freilassung der wegen Meuterei verhafteten Matrosen oder die Flottenangelegenheiten ging, sondern um die Infragestellung der bestehenden politischen Ordnung.

Selbstverständlich hatten die Behörden von diesen Vorgängen Kenntnis, und Wilhelm Souchon, der Kommandant der Marinestation Kiel, war entschlossen, gegen die sich anbahnende Erhebung mit aller Härte vorzugehen. Aber nur wenige Tage im Amt, konnte er die Verhältnisse kaum sachgerecht einschätzen. Erst am 3. November berichtete Souchon dem Reichsmarineamt in Berlin über die „äußerst gefährlichen Zustände“ vor Ort und bat, „wenn irgend möglich, einen hervorragenden Abgeordneten“ der SPD nach Kiel zu schicken. 

Da war die Situation allerdings schon eskaliert. Am späteren Nachmittag versammelten sich fünf- bis sechstausend Menschen auf dem großen Exerzierplatz und applaudierten den Rednern, allen voran Artelt, die die „Beendigung des Krieges, Frieden, Freiheit und Brot“ verlangten, vor allem aber die sofortige Entlassung der festgenommenen Matrosen. Man konnte sich teilweise bewaffnen und marschierte in großer Zahl durch die Stadt, bis der Zug an der Ecke Karlstraße und Brunswiker Straße von einer kleinen loyal gebliebenen Truppe aufgehalten wurde. Die feuerte tatsächlich in die Demonstranten, stob danach aber wie die Menge auseinander. Zurück blieben sieben Tote und 29 Verletzte.

Diese „Bluttat“ trug dazu bei, die Stimmung anzuheizen. In der Folge flackerten Unruhen immer wieder auf, die Matrosen verfügten mittlerweile über eine Menge an Gewehren, befreiten arretierte Kameraden und schlossen sich mit Zivilisten zusammen, vor allem Arbeitern aus den großen Werften Kiels, die in den Streik getreten waren. 

Artelt bildete ad hoc einen ersten Soldatenrat, der dafür sorgte, daß die Disziplin in den Kasernen restlos zerfiel. Der Gouverneur gab die harte Linie auf, nicht zuletzt um Zeit zu gewinnen, und bot den Meuterern Verhandlungen an. Aus dem schlecht informierten Berlin erhielt er keine Unterstützung. Allerdings kamen am Abend des 4. November mit dem Staatssekretär Conrad Haußmann und dem Reichstagsabgeordneten Noske zwei Abgesandte der Reichsregierung.

Sie wurden bereits am Bahnhof von einer begeisterten Volksmenge begrüßt, und auf dem Wilhelmsplatz hatten sich Tausende versammelt, zu denen Noske sprach, wobei er sie vor allem aufforderte, Ruhe zu bewahren und von weiteren Ausschreitungen abzusehen. Dann folgte eine Besprechung im Gebäude der Marinestation, an der neben dem Gouverneur, Haußmann und Noske Vertreter der MSPD und USPD, Delegierte der Arbeiter und der Matrosen teilnahmen. Die weitergehenden Forderungen im Hinblick auf die Beseitigung der Monarchie und Einführung des gleichen Wahlrechts sowie die Aufnahme von Friedensverhandlungen wurden von Haußmann und Noske mit der Begründung zurückgewiesen, daß hier gar keine Zuständigkeit bestehe. Man einigte sich also darauf, die Heeresverbände zurückzuziehen und eine öffentliche Erklärung abzugeben, daß keine „Verzweiflungstat“ der Marine geplant sei. 

Mit Datum des 4. November veröffentlichte der von Artelt gebildete Soldatenrat die Ergebnisse der Besprechung durch ein Flugblatt, in dem es hieß: 

1. Freilassung sämtlicher Inhaftierten und politischen Gefangenen.

2. Vollständige Rede- und Pressefreiheit.

3. Aufhebung der Briefzensur.

4. Sachgemäße Behandlung der Mannschaften durch Vorgesetzte.

5. Straffreie Rückkehr sämtlicher Kameraden an Bord und in die Kasernen.

6. Die Ausfahrt der Flotte hat unter allen Umständen zu unterbleiben.

7. Jegliche Schutzmaßnahmen mit Blutvergießen haben zu unterbleiben.

8. Zurückziehung sämtlicher nicht zur Garnison gehöriger Truppen.

9. Alle Maßnahmen zum Schutze des Privateigentums werden sofort vom Soldatenrat festgesetzt.

10. Es gibt außer Dienst keine Vorgesetzte mehr.

11. Unbeschränkte persönliche Freiheit jedes Mannes von Beendigung des Dienstes bis zum Beginn des nächsten Dienstes.

12. Offiziere, die sich mit den Maßnahmen des jetzt bestehenden Soldatenrates einverstanden erklären, begrüßen wir in unserer Mitte. Alles Übrige hat ohne Anspruch auf Versorgung den Dienst zu quittieren.

13. Jeder Angehörige des Soldatenrates ist von jeglichem Dienste zu befreien.

14. Sämtliche in Zukunft zu treffenden Maßnahmen sind nur mit Zustimmung des Soldatenrates zu treffen.

Diese sogenannten „Kieler 14 Punkte“ werden in der Literatur regelmäßig überbewertet. Tatsächlich handelte es sich um eine Mischung aus konkreten Forderungen und solchen, die in ihrer Allgemeinheit keine Bedeutung gewinnen konnten. Wie die praktische Umsetzung aussehen sollte, blieb schon deshalb unklar, weil sich in der Stadt das Chaos auszubreiten drohte. An reguläre Arbeit war nicht mehr zu denken, immer wieder wurde zum Generalstreik aufgerufen, und bei wahllosen Schießereien gab es zehn Tote. Dabei existierte nichts, was man eine revolutionäre Führung hätte nennen können. Bezeichnend ist, daß Noske, als er am Morgen des 5. November den Vorstand des Soldatenrates suchte, niemanden finden konnte. Schließlich forderte ihn Artelt selbst auf, die Geschäfte zu übernehmen. Noske organisierte daraufhin überhaupt erst ein funktionsfähiges Gremium. In seiner neuen Funktion ließ er ein Flugblatt in der Bevölkerung verbreiten, das bezeichnenderweise mit dem Aufruf endete: „Wer Freiheit will, muß Ordnung halten!“

Unterstützung durch die sowjetrussische Botschaft

Noske wußte allerdings, daß ein Zurück nicht mehr möglich war. Seit dem 3. November hatte Popp von Kiel aus Matrosen in die norddeutschen Städte geschickt, um für die Sache der Revolution zu werben. Am 5. November kam es schon in Lübeck und Hamburg zur Erhebung, am Folgetag in Wismar, Schwerin, Rostock, Flensburg, Rendsburg, Cuxhaven, Wilhelmshaven und Bremen. Am 7. November war ganz Norddeutschland mehr oder minder in revolutionärer Hand. Selbst wenn danach die Initiative auf München überging, spielten doch Nachrichten über die Kieler Vorgänge in jedem Fall eine Rolle, was auch daran deutlich wurde, daß sich in rascher Folge Soldaten- und Arbeiterräte bildeten.

Die Bezeichnung „Rat“ war dabei kein Zufall. Es handelte sich vielmehr um die Übernahme eines Begriffs aus dem revolutionären Rußland. Dort waren schon nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 „Sowjets“ als spontane Vertretung von Soldaten und Arbeitern gebildet worden. Das Durcheinander innerhalb der Räte nutzten die Bolschewiki als disziplinierte Kaderpartei, um ihren Einfluß auszubauen und sich gleichzeitig als Vertreter des Volkes zu präsentieren. 

Die USPD und die in ihrem Rahmen operierende „Gruppe Spartakus“ waren von diesem Modell fasziniert. Bereitwillig akzeptierten sie auch die Unterstützung der sowjetrussischen Botschaft in Berlin, die ihrerseits alles tat, um die Weltrevolution auf deutschem Boden fortzusetzen. Seit dem Sommer 1918 ergoß sich eine Flut radikaler Propaganda über das Land und an die Front, und wenn bei der großen Kieler Versammlung vom 4. November Hochrufe auf die russische Revolution ausgebracht wurden, sich die Matrosen mit „Kamerad Bolschewiki“ anredeten und auch das Hissen der roten Flagge auf den Schiffen mit „Drei Hurrahs für die Bolschewiki!“ ablief, dann waren das mehr als Äußerlichkeiten.

Kaum jemand sah die Gefahr des Übergreifens der revolutionären Welle aus dem Osten so deutlich wie Noske. Die Unfähigkeit von Popp und Artelt eröffnete ihm aber auch die Möglichkeit zu entschlossenem Handeln. Am 7. November brachte Noske den Soldatenrat dazu, ihn zum neuen Gouverneur zu bestimmen. Souchon räumte seinen Posten willig, Popp und Artelt wurden in einen neuen Soldatenrat abgeschoben, der angesichts der Demobilisierung der Truppen rasch an Bedeutung verlor. Nos-ke selbst hat in der Folge alles getan, um die Lage zu beruhigen, die immer wieder angestrebte Volksbewaffnung unterbunden und auf diese Weise einen Fortgang der Dinge in relativ geordneten Bahnen ermöglicht.

Historischen Dank hat man ihm dafür nicht gezollt, sowenig wie für seinen späteren Einsatz als Reichswehrminister. Die Bewunderung gilt heute anderen, die im besseren Fall gute Absichten vorzuweisen hatten, im schlechteren willens waren, einem mörderischen System den Weg zu bereiten.