© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/18 / 02. November 2018

Das Halali gegen Rechts
Der Kampf Beate Klarsfelds gegen „Nazi“-Kanzler Kiesinger
Thorsten Hinz

Die Ohrfeige der Beate Klarsfeld für Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) war eine lange geplante Aktion. Klarsfeld hat oft und gern davon berichtet. Auf dem CDU-Parteitag in Berlin am 7. November 1968 bot sich endlich die passende Gelegenheit. Ein Stern-Fotograf gab ihr seine Pressekarte. „Ich ging mit einem Steno-Block in der Hand hinunter zur Tribüne und sagte zu einem Ordner, ich müßte einem Kollegen auf der anderen Seite des Podiums etwas sagen. So kam ich an Kiesinger heran, allerdings nur von hinten. Ich habe ihn dann mit dem Handrücken geschlagen, mit links. Ich traf ihn eher ins Auge als aufs Ohr.“ Nach vollbrachter Tat rief sie: „Nazi, Nazi, Nazi!“ Es sei „eine symbolische Ohrfeige der Jugend gegen die Nazi-Generation“ gewesen.

Klarsfeld arbeitete 30 Jahre mit der Stasi zusammen

Beate Klarsfeld hat eine erkennbar hohe Meinung von sich. Die Angelegenheit läßt sich aber auch als eine exzentrische Banalität beschreiben. Wie so viele junge Menschen ihrer Generation empfand die 1939 geborene Beate Auguste Künzel ihr Elternhaus als autoritär und spießig. Als Au-Pair-Mädchen in die Weltstadt Paris gekommen, traf sie am 11. Mai 1960, just am Tag, an dem Adolf Eichmann aus Argentinien entführt wurde, auf den Juden Serge Klarsfeld, dessen Vater dem Holocaust zum Opfer gefallen war. Die private verschmolz symbolhaft mit der politischen Epiphanie. Fortan wollte sie eine bessere Deutsche sein, die ihren nicht so guten Landsleuten den Weg wies. Die Vergangenheitsbewältigung, der autoaggressive Kompensationsversuch für die äußere Ohnmacht der Deutschen, wurde zu ihrem Aktionsfeld.

Sie kaprizierte sich auf den CDU-Politiker Kiesinger, der Ende 1966 zum Kanzler einer Großen Koalition gewählt worden war. Von der Zuschauertribüne des Bonner Bundestags rief sie ihm zu: „Nazi, tritt zurück!“, wurde abgeführt, aber alsbald freigelassen. Die Fotos zeigen eine junge Frau in der Pose einer Jeanne d’Arc. Tatsächlich war Kiesinger 1933, mit 29 Jahren, der NSDAP beigetreten, ohne dort sonderlich aktiv zu werden. Der studierte Jurist verzichtete auf den Eintritt in den Staatsdienst und verdiente den Lebensunterhalt als Rechtsanwalt und Repetitor. Nach Ausbruch des Krieges wurde er durch Vermittlung eines Bekannten im Auswärtigen Amt angestellt, wo er für die Auslandspropaganda zuständig war, zuletzt als Stellvertretender Leiter der Rundfunkabteilung. Dem zweifachen Familienvater blieb so der Fronteinsatz erspart. 

Die Große Koalition, der Kiesinger vorstand, war für die Bundesrepublik ein Glücksfall. Zum einen wegen der seither nie wieder erreichten Sachkompetenz, die sie versammelte, zum anderen durch die besondere Konstellation. Zum Vizekanzler und Außenminister wurde der SPD-Vorsitzende Willy Brandt ernannt, der 19jährig nach Norwegen emigriert, im Widerstand tätig gewesen und in norwegischer Uniform nach Deutschland zurückgekehrt war. Der Durchschnittsdeutsche Kiesinger beglaubigte die Ehrenhaftigkeit Brandts, den damals noch einige für einen Vaterlandsverräter hielten, während der Hitler-Gegner der ersten Stunde bezeugte, daß man im Dritten Reich Parteimitglied und gleichzeitig ein anständiger Mensch gewesen sein konnte.

Diese Chance zum inneren Frieden wurde konterkariert durch den innerdeutschen Bürgerkrieg. Die Bundesrepublik sprach der DDR das staatliche, die DDR der Bundesrepublik das moralische Existenzrecht ab. Die SED-Führung startete großangelegte Propagandaaktionen, um vor dem In- und Ausland die NS-Kontaminierung des „Globke-Staates“ nachzuweisen. Gegen den Vertriebenenminister Theodor Oberländer und Adenauers Staatssekretär Hans Globke, der an den „Nürnberger Gesetzen“ mitgewirkt hatte, wurden vor dem Obersten Gericht der DDR Schauprozesse veranstaltet, die mit lebenslangen Freiheitsstrafen für die – abwesenden – Angeklagten endeten. Bundespräsident Heinrich Lübke wurde als „KZ-Baumeister“ in Verruf gebracht. Der SED-Führung kam zugute, daß ein Großteil der Dokumente aus der NS-Zeit sich in DDR-Archiven befand. Die Publikation erfolgte selektiv, nach dem politisch-propagandistischen Nutzwert, und schloß Fälschungen und Manipulationen ein.

Es konnte gar nicht ausbleiben, daß die Stasi auf die Aktivitäten der Klarsfelds aufmerksam wurde. Beide reisten mehrmals in die DDR, wo sie mit Zuwendungen und „stapelweise Dokumenten“ versorgt wurden. Nach Auskunft zweier ehemaliger Stasi-Offiziere wurde Beate Klarsfeld auch das „belastende Material gegen den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger“ ausgehändigt, „mit dem sie dann seit 1967 Kiesingers NS-Vergangenheit anprangerte“. Die Zusammenarbeit begann 1966 und endete erst 1989. 

Kiesingers einstiger Mentor arbeite in den DDR-Medien

Im Juni 1968 hatte der Nationalrat der Nationalen Front – die Dachorganisation der Parteien und Massenorganisationen der DDR – die Dokumentation „Vom Ribbentrop-Ministerium ins Amt des Bundeskanzlers“ veröffentlicht. Kiesinger wurde vorgestellt als „eingefleischter Nationalsozialist, der skrupellos die verbrecherische faschistische Politik vertrat“, sich als „Propagandist der Eroberungs- und Ausrottungsfeldzüge Hitlers“, als „Judenfeind und Gestapo-spitzel“ betätigt hatte und „für ein SS-Europa einsetzte“. Er sei der „Kanzler des verschärften Rechtskurses“ sowie „Protektor“ und „Förderer des Neonazismus“. 

Der hysterischen Tonfall setzte Klarsfeld in ihrer für den Westen bestimmten, 1969 erschienenen Dokumentation „Die Geschichte des PG 2 633 930 Kiesinger“ fort. „Durch aktives Eingreifen sorgte Kiesinger dafür, daß die NS-Kriegsmaschinerie exakt arbeiten konnte. Kiesinger war beteiligt an der Ausweitung und Verlängerung des Krieges.“ Das Vorwort für diesen Unfug hatte Heinrich Böll beigesteuert.

In Wahrheit bewiesen die publizierten Aktenstücke gar nichts. Sie ließen lediglich erkennen, daß Kiesinger in die verwaltungsmäßigen Abläufe des Amtes eingebunden war. Tatsächlich wußte die Stasi, daß die Anwürfe falsch waren. Der Bekannte, der Kiesinger den Posten im Ministerium vermittelt hatte, hieß Karl Heinz Gerstner. Er war der uneheliche Sohn des prominenten Diplomaten Karl Ritter, der 1949 im Wilhelmstraßenprozeß abgeurteilt wurde. Nach dem Krieg absolvierte er eine steile Karriere im Medienbetrieb der DDR und war als Informant für den sowjetischen Geheimdienst und die Staatssicherheit (IM „Ritter“) tätig. 

In seiner 1999 erschienenen Autobiographie entlastete Gerstner seinen alten Duzfreund posthum: „Kiesinger war kein Nazi. Er war überhaupt nicht der Typ. Ihn beherrschten konservative Vorstellungen, liberale und nationale Überzeugungen.“ Klarsfelds Eitelkeit hatten es der DDR leichtgemacht, sie als Sprachrohr zu instrumentalisieren. Darüber hinaus zeigte sich die fatale Koinzidenz der Westlinken und der SED im Zeichen eines dogmatischen Antifaschismus. Im Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ (2010) werden die Affäre erörtert und Gerstner erwähnt, doch seine Entlastung Kiesingers wird unterschlagen.

Klarsfeld wurde 1968 in einem Schnellverfahren zu einem Jahr Haft verurteilt mit der Begründung, politische Überzeugungen dürften nicht mit Gewalt vertreten werden. Verteidigt wurde sie von Horst Mahler. Durch die französische Staatsbürgerschaft geschützt, mußte Klarsfeld die Haftstrafe nicht antreten. In einem Berufungsverfahren wurde die Strafe deutlich herabgesetzt. Heinrich Böll schickte ihr fünfzig rote Rosen. Die sagenhafte Karriere der Klarsfelds als „Nazi-Jäger“ hatte begonnen.

Längst ist Beate Klarsfelds Ohrfeige als Initiationsakt des „besseren Deutschland“ kanonisiert. 2015 wurde dem Ehepaar in Paris das Bundesverdienstkreuz überreicht, was man auch als Besiegelung der inneren und äußeren Schwäche der Bundesrepublik und ihres Mangels an Dignität und Stil verstehen kann. Man stelle sich vor, was eine Ohrfeige für den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle ausgelöst hätte.

Andererseits bedeuten Stilunterschiede zwischen den europäischen Staaten heute wenig. Aus Frankreich fliehen zahlreiche Juden vor Migrantengewalt nach Israel. In Deutschland ist eine ähnliche Entwicklung denkbar. Der Sohn Arnaud Klarsfeld, der als Rechtsanwalt in die Fußstapfen der Eltern getreten ist, hat schon 2002 die israelische Staatsbürgerschaft angenommen. Sicher ist sicher.