© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/18 / 02. November 2018

Mendels Gesetz gebrochen
Schädlingsbekämpfung mittels der Manipulation des Erbguts durch Genantriebe
Christoph Keller

Vertraut man den Verheißungen der Gentechnik, rückt eine von aller Mühsal der alten befreiende schöne neue Welt täglich näher. Die Produktpalette offeriert noch viel Zukunftsmusik wie das Angebot des ewigen Lebens für „Transhumanisten“. Aber bescheidenere Wünsche können auch heute schon erfüllt werden. Wie zum Beispiel das Anliegen von Landwirten, die endlich ohne Ernteverluste leben möchten.

Wie die Vereinigung kalifornischer Kirschfarmer (California Cherry Board), die seit 2013 jährlich 100.000 Dollar in die Entwicklung eines neuartigen gentechnischen Systems investiert, das ihren ärgsten Plagegeist, die Kirsch­essigfliege (Drosophila suzukii), von ihren Plantagen fernhält. Diese aus Asien eingewanderte Fruchtfliegenart nutzt heranreifende Kirschen zur Eiablage, wodurch diese verkümmern und verfaulen.

Weniger Pestizide bei Kaliforniens Kirschfarmern?

Die von den Farmern geförderte, nicht nur von dem Chemiker Bernd Giese als revolutionär eingestufte Technologie zählt zu den „Gene Drives“, zu deutsch: Genantriebe (Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/18). Das sind Systeme, die Mendels Erbgesetze überwinden, wonach bei geschlechtlicher Vermehrung ein Gen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von maximal 50 Prozent an die Nachkommen weitergegeben wird. Mit Hilfe von Genantrieben wären hingegen Wahrscheinlichkeiten von 100 Prozent möglich. Also würden alle Nachkommen über die genetisch manipulierte Eigenschaft verfügen.

Was bei der Kirschessigfliege bedeutet, das Gen für den Legebohrer des Weibchens so zu verändern, daß die Tiere nicht mehr in der Lage sind, ihre Eier in Kirschen abzulegen. Die Auswirkungen auf die Selektion werden interessant sein, da die noch nicht betroffenen Fliegen, dann deutlich bessere Reproduktionsmöglichkeiten vorfinden sollten.

Diese in jedem Fall elegante Art, Schädlinge ohne Pestizide und Gift zu vernichten, hat nicht nur Kaliforniens Kirschfarmer fasziniert. Von Jahr zu Jahr, beobachtet Giese, werde die Liste länger, in der Kunden ihre Wünsche nach gentechnischer Schädlingsbekämpfung anmelden. Die kalifornische Organisation „Island Conservation“ will Genantriebe weltweit auf Inseln einsetzen, um eingewanderte Ratten- und Mäusepopulationen zu vertilgen. Für Neuseelands Regierung scheinen diese das Mittel der Wahl, um bis 2050 alle eingeschleppten Arten wie Ratten, Opossums und Wiesel auszurotten.

Die Gates-Stiftung wiederum denkt zuerst an den Menschen. Sie und der Open Philanthropy Projet Fund des Facebook-Mitgründers Dustin Moskovitz, finanzieren mit einem 75-Millionen-Dollar-Etat genetische Forschungen am Londoner Imperial College. Ihr Ziel ist es, Genantrieb-tragende Moskitoarten in einigen Regionen Afrikas zur Malaria-Bekämpfung auszusetzen, obwohl dort in den letzten Jahren die Neuerkrankungen und Sterblichkeitsraten durch konventionelle Mittel wie Moskitonetze, Insektizide und bessere Gesundheitsversorgung gesenkt werden konnten.

Wo Bill Gates investiert, mangelt es nicht an Nachahmern. Der Vormarsch der vermeintlichen Genantrieb-Wunderwaffe vollzieht sich daher auf breiter Front. Der indische Tata-Konzern ist ebenfalls mit 70 Millionen Dollar dabei. Bereits 2014 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Plan zur schrittweisen Erprobung gentechnisch modifizierter Moskitos. Das US-Verteidigungsministerium gab 100 Millionen Dollar für diese Forschung frei. Und auch in Deutschland ist die innovative Technik jetzt ein Thema: der Deutsche Ethikrat ließ sich 2017 von WHO-Mitarbeitern ihre kostengünstigen Vorzüge im Vergleich mit klassischen Methoden erläutern. Inzwischen verschaffte die Aufrüstung mit der Gen-Schere CRISPR/Cas9 (JF 18/17) dem Genantrieb-System bei der Umwandlung natürlicher in Gentechnisch Veränderte Organismen (GVO) einen gewaltigen Entwicklungsschub, der nicht auf die Moskitobekämpfung beschränkt bleiben wird.

Nachhaltige Ausbreitung ohne heftige Debatten?

Hingegen nimmt die Öffentlichkeit von diesem Qualitätssprung der Gentechnik so wenig wahr, daß Giese von einer seltsam „stillen Revolution“ spricht, die sich augenblicklich vollziehe, ohne die sonst üblichen „heftigen Debatten“ auszulösen. Liegt es daran, daß diese Technologie nur Gewinner kennt, nur Vorzüge hat? Eher nicht, meint Giese. Die schwache öffentliche Resonanz erkläre sich vielmehr aus geringem Problembewußtsein. Man denke weiterhin in den Kategorien des deutschen Gentechnikgesetzes (GenTG).

Das setze den Normalfall einer GVO-Freisetzung in überschaubaren Zeiträumen, Mengen, Regionen voraus. Wenn es etwa in Paragraph 16b GenTG heißt, bei Haltung gentechnisch veränderter Tiere seien Maßnahmen zur Verhinderung des Entweichens zu treffen, dann ist die Kollision von Genantrieb mit bisherigen, nun wohl antiquierten Regulierungen unvermeidlich. Denn der Clou der neuen Technologie bestehe gerade in der effektiven Verbreitung von GVOs. Ihr Wirkprinzip ist auf „durchschlagende Ausbreitung“ angelegt.

Deswegen soll die Gates-Stiftung kürzlich auf Nummer Sicher gegangen sein, indem sie einen Konsultationsprozeß zur UN-Biodiversitätskonvention (CBD) mit gut bezahlten Lobbyisten zu beeinflussen versuchte. Es galt skeptische Experten zu beruhigen, die sich um unbeabsichtigte Wirkungen in Ökosystemen sorgten. Denn die Achillesferse von Genantrieben besteht in der ungeklärten Kontrollfrage. Es sei „völlig unklar, ob Genantriebe überhaupt beherrschbar sind“, bringt Giese die Schattenseite des Systems auf den Punkt.

Die Gefahr eines Kontrollverlusts sei groß, da die Anzahl einmal freigesetzter GVOs von selbst zunehme. Dabei kann sich das manipulierte Gen, abgesehen von nicht kalkulierbaren Effekten im Genom des Zielorganismus, etwa einer Moskitoart, über die Zielpopulation hinaus in andere Populationen oder sogar in andere Spezies ausbreiten und dann ökologisch unabsehbare Folgen zeitigen. Ende 2017 haben US-Forscher nachgewiesen, selbst wenig effektive Gen­antriebe können „leichter als bisher angenommen auch benachbarte Populationen anderer Regionen befallen“.

Bei der Kirschessigfliege sei es also möglich, daß ein Kontakt zwischen der genetisch veränderten kalifornischen und der in Japan beheimateten Ursprungsart dazu führe, die asiatischen Populationen vollständig auszulöschen. Ebenso könnte die Rattenliquidierung auf Inseln aus dem Ruder laufen, wenn sie sich auf dem Festland fortsetzt. Und schließlich, so warnt Giese, sollte die Hiobsbotschaft vom letzten Herbst hellhörig machen, wonach die Masse der Insekten in Deutschland seit 1990 um 76 Prozent zurückgegangen ist. Die Ursachen dafür seien nicht annähernd geklärt. Trotzdem würden mit Genantrieb Eingriffe geplant, die offenbar nicht „chirurgisch“ präzise verlaufen, leicht außer Kontrolle geraten könnten und unbeherrschbare Folgewirkungen riskieren.

„Gene Drives: Die Revolutionierung der Gentechnik“, in den Blättern für deutsche und internationale Politik, 7/18:  blaetter.de/