© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Vor dem Mob eingeknickt
Pakistan: Premier Imran Khan sorgt mit seinem Kurswechsel im Blasphemiefall Aasia Bibi für Irritation
Marc Zoellner

Es war die schiere Angst, die Imran Khan einknicken ließ: Dabei galt der ehemalige Kapitän der pakistanischen Cricket-Nationalmannschaft, der seit August 2018 als Premier die Geschicke seines Landes leitet, vor einer Woche noch als Hoffnungsträger vieler moderater Pakistaner im Kampf des Rechtsstaates gegen eine lautstarke Minderheit radikalislamischer Extremisten. „Endlich ist die Zeit gekommen, daß ein Anführer sich erhebt, der den alleinigen Besitzanspruch der Mullahs am Glauben herausfordert“, lobte Abbas Nasir, Leitartikler von Pakistans größter Tageszeitung The Dawn, Khans öffentlichen Auftritt von vergangenem Mittwoch. „Jeder vernünftige Pakistaner sollte diesen Standpunkt bedingungslos unterstützen.“

Glaubwürdigkeit der Politik   ist beschädigt

Tatsächlich hatte Khan sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen – und als erster Premier gewagt, den militanten Anhängern der Dschihadistenpartei „Tehreek-e-Labaik“ (TLP) die Stirn zu bieten. Zu Tausenden waren diese nach dem höchstrichterlichen Freispruch der Feldarbeiterin Aasia Bibi, die seit 2009 aufgrund eines Blasphemievorwurfs in der Todeszelle saß, in den Metropolen des Landes auf die Straße gegangen. Von Karatschi im Süden bis Peschawar im hohen Norden blockierten sie Hauptverkehrsadern, organisierten Sitzstreiks und lieferten sich Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. „Das ist kein Dienst am Islam, sondern eine Feindseligkeit gegen unsere Nation“, drohte Khan damals unverhohlen den Protestierenden. „Wenn ihr damit fortfahrt, wird der Staat Maßnahmen ergreifen und seine Pflicht erfüllen, um Eigentum und Leben seiner Bürger vor euch zu schützen.“

Nur drei Tage später die Kehrtwende: Der Fall Aasia Bibis sei zwar in letzter Instanz vor dem Obersten Gerichtshof zu ihren Gunsten abgewiesen worden, verkündete ein Regierungssprecher. Trotz alledem werde der Staat eine erneute Revision der Angelegenheit zulassen. Der Mob auf der Straße, gemessen an der pakistanischen Einwohnerzahl von über 200 Millionen Menschen nur wenige Promille ausmachend, hatte gesiegt – auf Kosten der Glaubwürdigkeit des Premiers, des Vertrauens in die Justiz; selbstredend auch auf jene der um ihr Leben bangenden Aasia Bibi. 

Angefangen beim Obersten Gerichtshof. Fünfzehn Paragraphen umfaßte die schriftliche Urteilsverkündung bezüglich seines verfügten Freispruchs der Feldarbeiterin. Ganze vierzehn davon behandeln dabei den tiefen Respekt der drei anwesenden Richter – selbst allesamt streng gläubige Muslime – vor der islamischen Religion. Einzig der letzte Passus bezieht sich auf Aasia Bibi. Er begründet ihren Freispruch mit der Unschuldsvermutung; die Aussagen der beiden Zeuginnen des Klägers seien nicht widerspruchsfrei. 

Am Straftatbestand selbst jedoch wagten auch die obersten Richter nicht zu rütteln. Auf Verunglimpfung des Islam und seines Propheten  Mohanmed ist in Pakistans Strafgesetz zwingend die Todesstrafe vorgeschrieben. Genau diesen Vorwurf erhob die Staatsanwaltschaft vor gut zehn Jahren gegen Aasia Bibi.

Im Juni 2009 soll die heute etwa fünfzig Jahre alte Frau, die der katholischen Minderheit Pakistans angehört, mit zwei weiteren Feldpflückerinnen ihres Dorfes über ein Glas Wasser in Streit geraten sein. In dessen Verlauf, so die beiden Zeuginnen, habe Bibi davon gesprochen, daß Jesus Christus allein und nicht Mohammed der Gesandte Gottes sei; ebenso, daß der Koran im Gegensatz zur Bibel von Menschen geschrieben wurde. „Ein falscher, erdichteter und erfundener Vorwurf“, wies Bibi damals die Beschuldigungen von sich. „Die Frauen zankten mit mir, weil ich ihnen Wasser angeboten hatte, welches sie ablehnten und sagten, da ich Christin sei, würden sie niemals Wasser von meiner Hand nehmen.“

Auch Richter erhalten Todesdrohungen 

Tatsächlich dient Pakistans strenges Blasphemiegesetz immer öfter auch als Waffe in zivilrechtlichen Streitereien. Wurden in den ersten dreißig Jahren seit der Ausrufung der Islamischen Republik von 1956 gerade einmal vierzehn Anklagefälle bekannt, stieg die Zahl der Verurteilten seit 1986 auf über anderthalbtausend an. Hunderte Menschen sitzen seitdem in pakistanischen Todeszellen ein, unter ihnen überproportional viele Christen – so wie Aasia Bibi als erste Frau in der Geschichte des Landes (JF 31-32/16). 

In der pakistanischen Zivilgesellschaft ist der Blasphemieparagraph nicht nur aufgrund seiner drakonischen Strafen, sondern ebenso bezüglich der einfachen Möglichkeit einer Beschuldigung hoch umstritten: Zuletzt votierten in einer Meinungserhebung vom März 2014 über 68 Prozent der Befragten der pakistanischen Tageszeitung The Nation für eine ersatzlose Steichung des Strafgesetzes.

Zahlen wie diese verdeutlichen, in welcher Minderheitenposition sich radikalislamische Parteien wie die TLP selbst im erzkonservativ geprägten Pakistan befinden. Trotz alledem sitzt die Furcht vor der TLP sowie der Militanz ihrer Mitglieder tief – gerade im Fall Aasia Bibis. So rief Khadim Rizvi, Vorsitzender und Gründervater der TLP, seine Anhänger vergangenen Freitag dazu auf, nicht eher zu ruhen, als bis „die Richter entlassen und Bibi gehängt“ sei. Sein Parteivize ging sogar noch einen Schritt weiter: „Entweder ihr Leibwächter, ihr Fahrer oder ihr Koch soll sie umbringen“, rief er zum Lynchmord auf. 

Ein Blick in die Geschichte beweist den Ernst solcher Drohungen. Als sich Salman Taseer, der Gouverneur von Bibis Heimatprovinz Punjab, im Januar 2011 für die Freilassung der Feldarbeiterin aussprach, erschoß ihn kurz darauf sein eigener Leibwächter. Die Todesstrafe gegen letzteren, der im radikalislamischen Umfeld Pakistans seitdem als Märtyrer mit eigener Gedenkstätte Verehrung findet, verhängte einer der drei Richter, die vergangenen Mittwoch auch Aasia Bibi freigesprochen hatten – und die seitdem selbst mit Todesdrohungen konfrontiert werden.

Auch Saif-ul-Mulook mußte außer Landes fliehen. „In der derzeitigen Situation ist es für mich nicht möglich, in Pakistan zu leben“, konstatierte der Anwalt der Feldarbeiterin. „Ich muß am Leben bleiben, um weiter für Aasia Bibi kämpfen zu können.“ Ihr Ehemann Ashiq Masih, der keine Hoffnung mehr auf einen rechtstaatlichen Prozeß hegt, bat um internationale Hilfe. „Ich bitte den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump, uns beim Verlassen des Landes zu helfen“, appellierte Masih in einer Videobotschaft. „Und ebenso bitte ich die Premiers des Vereinigten Königreichs und Kanadas darum.“