© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Neuvermessung eines Kontinents
Ohne Scheuklappen: Zu Helmuth Kiesels monumentaler Literaturgeschichte der Weimarer Republik
Wolfgang Müller

Wer auf die Flut der Ereignisse konzentriert ist, der nimmt den 9. November 1918, den Wechsel von der Monarchie zur Republik, gewiß als tiefen Einschnitt in der deutschen Geschichte wahr. Wer hingegen mehr auf die Felsen achtet, an denen sich die Wellen des Tages brechen, registriert die „Novemberrevolution“ eher als Kräuseln auf der Oberfläche im Meer der Zeit.

Diese metaphorische Unterscheidung zwischen den „Felsen“, den Kräften der Beharrung, die die lange Dauer tiefgreifender Gesetzmäßigkeiten der etwa durch Geographie und Demographie determinierten Geschichte bestimmen, und jenem ewigen Wellenschlag, der die Illusion dramatischer Wandlungen erzeugt, stammt von dem französischen Historiker Fernand Braudel (1902–1985). 

Zu den relativ unbeweglichen, zumindest einige Generationen übergreifenden stabilen Strukturen gehören für Braudel auch die vom „Sein“ der Eigentums- und Produktionsverhältnisse abhängigen, „Bewußtsein“ prägenden, Mentalitäten formenden, kollektives Verhalten steuernden Weltbilder. Aus dieser Perspektive betrachtet, hatte die ereignishaft kurze Dauer des politischen Systemwechsels, der Sturz der Hohenzollerndynastie, die Machtergreifung der Sozialdemokratie, auf die unerschütterliche Haltbarkeit des „stählernen Gehäuses“ (Max Weber) der kapitalistisch organisierten deutschen Gesellschaft kaum Einfluß. Zumal die Gefahr eines radikalen Wandels nach Lenins sowjetischem Modell bereits zum Jahreswechsel 1918/19 gebannt war, mit der Weichenstellung für die Wahlen zur Nationalversammlung, für die parlamentarische Demokratie, gegen die Rätediktatur.

Ebenso wie die Politik wurzelt die Kultur der ersten deutschen Republik in älteren, durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert geschaffenen „modernen“ Lebenswelten. In diese Kontinuität der geistigen und künstlerischen Auseinandersetzung mit den ökonomisierten, rationalisierten, technisierten, dynamisierten Daseinsbedingungen im „entseelten, übermechanisierten Europa“ (Walther Rathenau, 1919), vor allem aber im Deutschen Reich, dem europäischen „Amerika“, stellt Helmuth Kiesel seine monumentale „Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933“. 

Der Titel stapelt tief. Denn die 1.200seitige Darstellung des als Biograph und Editor Ernst Jüngers bekannt gewordenen Heidelberger Germanisten läßt die Grenzen und Begrenzungen traditioneller Literaturgeschichte meilenweit hinter sich. Kiesel will die Textproduktion der Weimarer Zeit „im unverkürzten gesellschaftsgeschichtlichen Rahmen“ untersuchen.

Notwendig rückt dabei die Politik ins Zentrum. Politik, für die „Wirtschaft das Schicksal“ (Rathenau) war und ist, auf deren Konjunkturen, Krisen und Kriege repräsentative Autoren der antidemokratischen Linken und Rechten, von Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht bis zu Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, die Grundwidersprüche der kapitalistischen Moderne zurückführten. Kiesel verficht sogar die kühne These, daß keine andere Epoche eine derart „außergewöhnliche Engführung von Politik und Literatur“ aufweise wie die fünfzehn Weimarer Jahre.

Tatsächlich ist eine derartig symbiotische Beziehung zwar nicht singulär. Zum Gegenbeweis genügt es, auf die parallele literarische und politische Entwicklung in der Romantik, im Vormärz, zur Zeit des Realismus oder Naturalismus zu blicken. Was aber Kiesels methodische Konsequenz, Literatur als politisches Medium zu begreifen, Literaturgeschichte mit Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte zu verschmelzen, um ein deutsches Panorama der Zwischenkriegszeit zu entwerfen, nicht weniger überzeugend wirken läßt.

Kiesels erklärtes und mit seiner Herkulesarbeit auch erreichtes Ziel ist es, den Deutungsfilter „Drittes Reich“ zu beseitigen, um die Weimarer Zeit ohne die Scheuklappen bundesdeutscher „Vergangenheitsbewältigung“ zu vergegenwärtigen. Dabei erinnert sein Mittel der Wahl, die Steigerung der Komplexität, nicht von ungefähr an Walter Kempowskis „Echolot“, da bei Kiesel der polyphone Chor der Weimarer Literatur in ähnlich überwältigender Fülle erklingt wie im kollektiven Tagebuch des „deutschen Chronisten“.

Damit erschließt ein Literaturwissenschaftler und nicht ein Zeithistoriker von Profession hundert Jahre nach ihrer Gründung erstmals die bis heute entweder durch eine reductio ad hitlerum  verzerrte oder als „Goldene Zwanziger“ massenmedial verkitschte Geschichte der Weimarer Republik. Ohne sie zu erwähnen, folgt Kiesel damit der Maxime Thomas Nipperdeys, der zufolge es die Aufgabe des Geschichtsschreibers sei, „den vergangenen Generationen das zurückzugeben, was sie einmal besaßen, so wie jede Gegenwart es besitzt: die Fülle der möglichen Zukunft, die Ungewißheit, die Freiheit, die Endlichkeit, die Widersprüchlichkeit“.

Gedächtnispolitisch könnte der Zeitpunkt für eine solche moralisch entsäuerte Annäherung an den ersten deutschen Demokratieversuch nicht glücklicher gewählt sein. Steuert die Titanic Berliner Republik im Orkan der Globalisierung doch auf Konstellationen zu, die im Rückblick auf ihre 1933 untergegangene Vorgängerin bald so zahllose wie schmerzliche Déjà-vu-Effekte auslösen werden.

Möglichst viele Stimmen zu Gehör zu bringen, die ganze Bandbreite der Literatur auszuschöpfen und vorzustellen, heißt die Aufmerksamkeit vom Höhenkamm auf die Ebene zu lenken. Getreu dem etwas despektierlich anmutenden Ratschlag Franz Grillparzers: „Man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat.“ Bei Kiesel treten deswegen die großen Namen Thomas Mann, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Franz Kafka, Alfred Döblin, Gottfried Benn, Bertolt Brecht zugunsten der Kohorten von Autoren zurück, deren Werk nach 1945 verfemt, ausgesondert und vergessen worden ist, weil es jeweils als „Vorläuferschaft“ hin zum Nationalsozialismus abgestempelt war. Das gilt für das gesamte, Tausende von Titeln umfassende Spektrum der literarischen Verarbeitung des Ersten Weltkrieges, zwischen den Polen von Ernst Jüngers „Stahlgewittern“ und Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Das gilt für das in Millionenauflage verbreitete Genre der als „völkisch-konservativ“ stigmatisierten, Provinz gegen Großstadt setzenden „Heimatliteratur“ sowie das durch die Folgen des Versailler Friedensdiktats provozierte üppige Schrifttum zum Thema „Grenzkampf“. Und das gilt für die Hochjunktur der „Zeitromane“ und „Zeitdramen“, die die bürgerkriegsartigen Konvulsionen zwischen 1918 und 1923 mitsamt „Ruhrkampf, Franzosen- und Separatistenzeit“ genauso widerspiegeln wie das soziale Elend der Hyperinflation von 1923 und die schließlich die Demokratie in den „Höllenschlund“ hinabreißende Weltwirtschaftskrise. 

Um die proklamierte „historische Gerechtigkeit“, die er diesen Textmassen aus dem „nationalistischen Lager“ widerfahren lassen will, herzustellen, kontrastiert Kiesel sie mit der ebenso generös berücksichtigten Literatur des „sozialistischen und kommunistischen Lagers“. Wobei dort an die Stelle der antimodernen rechten „Heimatliteratur“ die radikale Modernekritik der „klassenkämpferischen Arbeiterliteratur“ tritt. Mit nachhaltiger Anschaulichkeit zeichnet sich so die Schnittmenge der das „bürgerliche Lager“ letztlich erdrückenden „Querfront“ des nationalen und des internationalistischen Widerstands gegen „das System“ des bürgerlich-kapitalistischen Staates ab.

In seinem Ehrgeiz, die Perspektive der Zeitgenossenschaft zurückzugewinnen, um die weltanschaulichen Dispositionen künstlerischer Produktion differenziert und „gerecht“ zu beurteilen, wagt sich Kiesel auch auf das erinnerungspolitisch am dichtesten verminte Gelände vor: die literarische Reflexion der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte. Das geschieht vielleicht allzu behutsam und schöpft das Material bei weitem nicht aus. Aber ein Anfang ist gemacht, wenn er auf rätselhafte, keineswegs seltene Ambivalenzen im Umgang mit der „Judenfrage“ etwa bei einem dezidiert völkischen Autor wie Erwin Guido Kolben-heyer hinweist.

In dessen „Paracelsus“-Trilogie (1917–1926) findet sich im Schlußband eine mehrseitige, „überaus beklemmende Passage über die gewaltsame Vertreibung der Regensburger Juden im Jahr 1519“. Kolbenheyer erteilt einem Regensburger Bürger das Wort, der am Pogrom beteiligt war und der eins der „Judenhäuser“ günstig erwarb. Doch der Profiteur fürchtet sich in den neuen vier Wänden, da ihn die Erinnerung an die Untat verfolgt. Im „pathologisierenden Bewußtsein“ dieser „außerordentlich eindrucksvollen Passage“ zeige Kolbenheyer nicht nur, was den Juden angetan wurde, sondern auch, was die Täter sich selbst antaten. Und diese „Warnung vor dem Irrweg der Gewalt und speziell der Judenverfolgung“ rühre von einem Autor, „der sich durch die antisemitischen Vorurteile gerechtfertigt“ fühlte und sie in seinem Werk häufig beschwor. Retrospektiv seien, moralisch verständlich, aber wissenschaftlich unbefriedigend, solche irritierenden Widersprüche durch die Schwarz-Weiß-Malerei einer primitiv „antifaschistisch“ durchtränkten Literaturgeschichte eliminiert worden. Darum mache man es sich heute mit der Gleichsetzung von völkisch, antimodern, antisemitisch, nationalsozialistisch viel zu leicht.

Wer sofort zum Zentrum von Kiesels Epos, der Neuvermessung des Kontinents der Weimar Kultur, vordringen möchte, lese den Epilog. Er handelt von einem vergessenen, erst in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ erneut aufgelegten, wieder hochaktuellen Schlüsselroman der Epoche: Rudolf Brunngrabers „Karl und das zwanzigste Jahrhundert“ (1932). Der mit dem Sozialismus sympathisierende Autor beschreibt darin, wie ein ursprünglich „sehr williges Mitglied dieser Welt“ durch das weiterhin gültige „Hauptprinzip“ der Moderne, die „Rationalisierung zwecks Produktions- und Gewinnmaximierung“, in den frühen Tod getrieben wird.

Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur von 1918–1933. C. H. Beck, München 2017, gebunden, 1.304 Seiten, 58 Euro