© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Im Gedächtnistheater Regie führen
Rachekunst: Der junge Politikwissenschaftler Max Czollek liest aus jüdischer Perspektive den Deutschen gehörig die Leviten
Thorsten Hinz

Mit dem Buch „Desintegriert euch!“ hat der 31jährige Politikwissenschaftler und Lyriker Max Czollek einen festen Platz im Kulturbetrieb gefunden. Nicht als theoretischer Kopf oder Sprachkünstler, sondern als Polemiker, der in der Manier von Maxim Biller und Michel Friedman den Deutschen die Leviten liest. Von den großen Medien wird er mit freundlichen Rezensionen und Interviews bedacht; seine öffentlichen Termine sind dicht getaktet.

Geboren wurde Czollek 1987 in einer jüdischen Familie in Ost-Berlin. Er macht einen klaren Unterschied zwischen den „Jüdinnen und Juden“ und den „Deutschen in Deutschland“; das Judentum bildet ausdrücklich den Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation. 

Seine Streitschrift knüpft an Michal Bodemanns Buch „Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung“ an, das der kanadische Soziologe vor mehr als 20 Jahren veröffentlichte. In dem Erinnerungsspektakel sind die Rollen eindeutig verteilt: Die Juden bescheinigen den bußfertigen Deutschen ihre Läuterung, Wiedergutwerdung und Resozialisierung. Als Komparsen treten die Ausländer (Migranten) auf und liefern den massenhaften Beweis dafür, daß Deutschland seit 1945 tatsächlich ein besseres und tolerantes geworden ist. In Wahrheit aber, so Czollek, dränge die deutsche „Dominanzgesellschaft“ die Juden in die Rolle der verzeihenden Opfer und setze die Migranten unter Integrationsdruck. Sie verleugne so die „reale gesellschaftliche Vielfalt“ zu dem Zweck, sich eine posthitleristische Normalität zu basteln und als fahnenschwingende „Täter*innengemeinschaft“ (der Text ist konsequent durchgegendert) neu zu konstituieren. Dieser „neovölkischen“ Renaissance mit „bedrückender (NS-)Nähe“ setzt er die Forderung nach Desintegration und einer Gesellschaft der „radikalen Vielfalt“ ohne Zentrum und Leitkultur entgegen.

Die Judenfeindschaft vieler Moslems verschweigt er

Seine Vorstellung von Diversität bezieht Czollek ausschließlich aus der subventionierten, internationalisierten Berliner Kulturszene. Den Blick in die Sozial-, Polizei- und Bildungsstatistiken hat er sich erspart, Alltagserfahrungen fehlen, die aggressive Judenfeindschaft vieler Moslems wird unterschlagen. Ernst zu nehmen ist hingegen seine Kritik an der theatralischen Funktionalisierung der Juden. Der Ehrlichkeit halber hätte er freilich die Eifersucht erwähnen müssen, mit der jüdische Repräsentanten ihre öffentliche Präsenz hüteten. Ihre Interventionsmacht konnte Politikerkarrieren beenden und sogar den deutschen Papst in Bedrängnis bringen. 

Czollek kritisiert die legendäre Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, in der er unter Berufung auf einen chassidischen Rabbi den Deutschen die permanente Erinnerung an den Judenmord als Pflicht auferlegte und sie mit der Aussicht auf Erlösung und Versöhnung lockte. „Mit seiner Rede wollte Weizsäcker der deutschen Gesellschaft die Erinnerung an ihre eigenen Verbrechen schmackhaft machen.“ Das ist hübsch böse formuliert, aber – abgesehen davon, daß den Deutschen hier eine kollektive Erbschuld zugeschrieben wird – höchst oberflächlich. Vor allem übersieht er, daß die manische Fixierung auf den Holocaust den allmählichen Eintritt in die historisierende Distanz und damit in die Normalität verbietet, die Individuen wie Kollektive brauchen, um lebensfähig zu bleiben. Eine neurotische Negativ-Identität wird zum Dauerzustand.

Czollek schreibt denn auch: „Der jüdischen Tradition nach bestraft Gott einen für böse Taten auf zehn Generationen (...)“ und fügt hinzu: „Nun denn, wir sind gerade erst in der dritten Generation.“ Er nehme „die Ermordung der eigenen Leute als fundamentale Kränkung“ wahr, die durch keine Gedenkrituale und Stelenfelder geheilt werden könne. Wenn Deutsche seiner Generation ihm erklärten, sie hätten genug von der NS-Endlosschleife, würde das die Kränkung fortsetzen.

Czolleks steile, zum Teil unausgegorene und ressentimentgelade Thesen ergeben einen Sinnzusammenhang, wenn man sie als Bruchstücke eines Psychogramms liest. Man lasse sich nicht von seiner Versicherung beeindrucken, welche die Streitschrift eröffnet, daß es sich um kein „bewegendes biographisches Zeugnis“ handele. „Es geht nicht um die Geschichte meiner Familie, nicht darum, wie ein Teil von ihr vernichtet wurde, nicht um das wundersame Überleben meines jüdischen und kommunistischen Großvaters (…).“ Die Sätze enthalten einen performativen Selbstwiderspruch als wohlkalkulierte Textmarkierung für den Leser. Indem Czollek das Schicksal seiner Familie als Anreiz für das Buch explizit verneint, thematisiert er es umso nachdrücklicher und vermittelt dem Leser eine Anweisung zum Textverständnis. Hinter der Anweisung steht die Autorität des Holocaust, woraus sich für den durch das Gedächtnistheater hinreichend konditionierten Leser die Deutungskompetenz und Unangreifbarkeit des Autors ergibt.

Czollek bekennt sich zu Rachegefühlen

Sein Großvater Walter Czollek (1907–1972) war ab 1933 mehrere Jahre in Zuchthäusern und KZs inhaftiert. Er überlebte im Exil in Schanghai. In der DDR leitete er den auf internationale Literatur spezialisierten Verlag Volk und Welt. Nach den Erinnerungen und Tagebüchern seines Mitarbeiters Fritz J. Raddatz verleugnete er sein besseres Wissen und seine Skrupel zugunsten der Linientreue zur SED. 1954 ließ er seinen Austritt aus der Jüdischen Gemeinde notariell beglaubigen. 

Der Vater Michael Czollek (1959–1999) machte sich in der FDJ-Poetenbewegung einen Namen, doch für einen Durchbruch als Dichter reichte die kreative Substanz nicht aus. Das mochte mit der politisch bedingten Schwierigkeit zusammenhängen, jüdisches Schicksal adäquat zu thematisieren. Sohn Max schreibt, die „zweite jüdische Generation nach der Vernichtung, also die Generation meines Vaters“, habe sich in einem „Vakuum“, in „einer großen Abwesenheit“ befunden. 1990 gehörte der Vater zu den Mitbegründern der radikal linken Partei „Die Nelken“, die bald von der Linkspartei (PDS) absorbiert wurde. Es stellte sich heraus, daß er der Stasi in einem Umfang zugearbeitet hatte, daß die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus sich veranlaßt sah, ihm Knall auf Fall den Stuhl vor die Tür zu setzen.

Auf den Schultern des Enkels und Sohnes lasten also gleich zwei widerlegte Integrationsversuche. Seine wissenschaftliche, dichterische und publizistische Tätigkeit soll nachträgliche Gerechtigkeit für die Familie herstellen. „(...) meine Familie hat es gelernt, nackt zu sterben“, heißt es in einem seiner – epigonalen, an Celan angelehnten – Gedichte. Am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin wurde er mit einer Arbeit über antisemitische Muster im frühen Christentum promoviert. Im aktuellen Buch bekennt er sich offen zu Rachegefühlen („Rachekunst ist Gegenwartsbewältigung“) und zitiert Quentin Tarantinos Film „Inglourious Basterds“ über ein US-Einsatzkommando im Zweiten Weltkrieg, das hinter der Front Deutsche („Nazis“) tötet. Er rechnet sich zu den „Inglourious Poets. Wir haben den Krieg gewonnen. So einfach kommen die Deutschen nicht davon.“

Czollek will das Gedächtnistheater gar nicht abschaffen, er möchte es modifizieren und Regie führen. Die Deutschen haben lediglich die Bühne bereitzustellen als den „Raum (…), in dem man ohne Angst verschieden sein kann“, seine „selbstbewußte Integrationsverweigerung“ auslebt und wo nebenbei der Kadaver des deutschen Leviathans verteilt wird. Wer nach Schluß der Vorstellung für das unvermeidliche Defizit aufkommt und die Bude saubermacht, versteht sich in diesem Spiel von selbst. 

Oft und gern spannt Czollek die Wörter „migrantisch“ und „jüdisch“ zusammen, bringt er eine „jüdisch-muslimische“ Querfront oder „Leitkultur“ ins Spiel. Die Umrisse künftiger kultureller Muster glaubt er im Migranten-Hip-Hop und -Rap zu erkennen, „die subversiv wirken, indem sie in die bestehenden Machtverhältnisse intervenieren und sie umkehren, queeren und unterlaufen“. Wohl als Variante der „Rachekunst“ akzeptiert er, daß die „desintegrative Ermächtigung“ auch „mit den Mitteln der Gewalt“ stattfindet.

Während er sich von der physischen Energie, die sich in dieser Jugendkultur entlädt, beeindruckt gibt, läßt er ihren oft judenfeindlichen Furor unerwähnt. Zudem kann ihm unmöglich entgangen sein, daß der Einfluß jüdischer Organisationen und die Verbindlichkeit des deutsch-jüdischen Gedächtnistheaters längst im Schwinden begriffen ist, und das nicht wegen der überfälligen Historisierung oder gar der Agitation der „Rechten“, sondern unter dem demographischen Druck aus dem islamischen Kulturkreis.

Czolleks freies Changieren zwischen ästhetischem Spiel und Politik ist nichts weiter als politische Romantik. Sollte tatsächlich die „radikale Vielfalt“, die er feiert, an die Stelle der aktuellen „Dominanzgesellschaft“ treten, würden umgehend ganz andere Kräfte dominant werden, und es verwirklichte sich der Hobbesche Naturzustand, in dem das Recht des Stärkeren triumphiert. Für Czolleks politischen Schmonzes würde sich dann niemand mehr interessieren.

Max Czollek: Desintegriert euch! Carl Hanser Verlag, München 2018, gebunden, 208 Seiten, 18 Euro