© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Dorn im Auge
Christian Dorn

Auf dem Rückflug vom Failed State Brüssel spreche ich meine Nachbarin an, die beim Stichwort Euro-Austritt sogleich die Stirn in Falten legt. Nach kurzer Pause sucht sie selbst das Gespräch, da es ja nicht weiterhelfe, wenn man sich den Argumenten des anderen verschließe. Ihr Beharren darauf, daß der Euro eine gute Sache sei, versuche ich mit makro- und mikroökonomischen Argumenten zu entkräften – erfolglos. Als wir in Berlin landen, beschwört sie im Namen der EU, deren Errungenschaft unbedingt erhalten werden müsse: „Aber Geld ist doch nicht das Wichtigste!“ Eben! Da kommt mir das Diagramm-Wortspiel aus dem Mathematikunterricht Ende der achtziger Jahre an der EOS „Bertolt Brecht“ in den Sinn: Wenn die Argumente scheitern, scheitern auch die Funktionswerte (= Europa).

 

Damals versuchte mich mein Klassenlehrer in grotesker Weise vor meinem musikalischen Hero Freddie Mercury zu warnen, glaubend, dessen Soloalbum „Mr. Bad Guy“ habe was mit „gay“ zu tun. So gesehen hätte ein wenig „Frühsexualisierungsunterricht“ gar nicht geschadet. Heute dagegen kann es bei der cineastischen Auferstehung des Queen-Sängers nicht schwul genug sein, müssen die persönliche Zerrissenheit und das Leiden daran als Anklage inszeniert werden – anders lassen sich die Nörgeleien von FAS bis Siegessäule an dem Musikfilm „Bohemian Rhapsody“ nicht deuten. Die Süddeutsche etwa vermißt den „roten Faden“, als ginge es hier um ein Auftragswerk für Aids-Schleife. Dafür würdigt in der FAZ der marxistische Autor Dietmar Dath diesen Film, der den Genius des „Götterlieblings“ in berührenden Worten feiere, als eine eher komische denn tragische Oper: „Man darf kein Wort und kein Bild glauben, aber jeden vor- und nachgesungenen Ton.“


Die Überschrift dieser Kinokritik („Eine Spur mehr zu laut wäre noch besser gewesen“) korrespondiert kurioserweise mit dem Kino Colosseum, wo ich den Queen-Film sehe – in exakt demselben Saal, in den ich mich am 20. Oktober 1988, mit anderen an den Türstehern vorbeistürmend, hineingeschmuggelt hatte zur Premiere des Dokumentarfilms „flüstern & SCHREIEN“ über die Underground-Musik­szene der DDR. Zurück in dieses Zeitalter führt die Doku „Schalom neues Deutschland – Juden in der DDR“ (RBB, 11. November, 22 Uhr), zu dessen Protagonisten der Rocksänger André Herzberg gehört, der wiederum am 15. November im Pfefferberg (ab 19.30 Uhr) sein bei Ullstein erscheinendes neues Buch und seine gleichnamige neue Platte vorstellt: „Was aus uns geworden ist“.