© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/18 / 09. November 2018

Umstrittene Beutekameraden
Polen in der deutschen Wehrmacht: Die Eingruppierung in die „Deutsche Volksliste“ machte es möglich
Jürgen W. Schmidt

Um die Jahreswende 1944/1945 verzweifelten US-amerikanische Feindlagenoffiziere bei einigen Verhören, weil gefangene Wehrmachtssoldaten Deutsch weder richtig sprachen noch verstanden. Im Osten wurden von Soldaten der auf sowjetischer Seite kämpfenden polnischen Truppenteile im Frühjahr 1945 im Raum Danzig gefangengenommene Polen in Wehrmachtsuniformen brutal verprügelt, weil sie das Pech hatten, ausgerechnet diesem polnischen Truppenteil in die Hände zu fallen. Der vormalige königlich-preußische Offizier polnischer Nationalität Bronislaw Pawel  brachte es dagegen in der Wehrmacht zum Generalmajor und Führer der 15. Infanteriedivision. Er war Träger des „Deutschen Kreuzes“ in Gold. Am 3. Februar 1946 hängte man ihn zusammen mit einigen anderen Wehrmachts- und SS-Generälen in Riga wegen angeblicher Kriegsverbrechen.

Auf diesem in Deutschland wie auch in Polen lange unbeachteten Hintergrund waberte in der polnischen Innenpolitik 2005 die „Großvateraffäre“ hoch. Der polnische Journalist und nationalchauvinistische PIS-Politiker Jacek Kurski warf dem damaligen polnischen Präsidentschaftskandidaten Donald Tusk vor, dessen Großvater Józef Tusk habe als Soldat in der Wehrmacht gedient. Das war für den aus einer kaschubischen Familie stammenden Tusk ein böser Vorwurf, welcher seine Wahlchancen beträchtlich schädigte. Allerdings verschwieg Kurski, daß Józef Tusk vor seiner Einberufung in die Wehrmacht in den Konzentrationslagern Stutthof und Neuengamme einsaß und an der Westfront bei Aachen zu den auf alliierter Seite kämpfenden polnischen Truppen desertierte. 

Der an der Universität Kattowitz lehrende Historiker Ryszard Kaczmarek hat in mehr als zehnjähriger Forschungsarbeit die Geschichte der in der Wehrmacht dienenden Polen auf Grundlage polnischer und deutscher Archivalien sowie von Zeitzeugenberichten untersucht und ein aufschlußreiches Buch darüber verfaßt, welches als Band 65 der „Schriften des Bundesinstitutes für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ eingereiht wurde.

Zunächst beschäftigt er sich mit der Ermittlung der erheblichen Anzahl von ethnischen Polen, welche bereits vor dem September 1939 auf deutschem Territorium, vor allem in Oberschlesien (auch „Wasserpolacken“ genannt), in Pommern (Kaschuben) und den Resten von Westpreußen sowie in Ostpreußen (Masuren) lebten. 

Nach Eingliederung der früheren deutschen Gebiete, die 1919 zur Republik Polen kamen, in die neuen Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland sowie der Bildung des „Generalgouvernements“ erhöhte sich die Zahl der ethnischen Polen im deutschen Herrschaftsbereich beträchtlich. Deren Menschenpotential versuchte man für die Wehrmacht wenigstens teilweise auszunützen. Dazu nutzte man die Einschreibung in die sogenannte „Deutsche Volksliste“ mit ihren vier Abstufungen. Die in der Liste 1 (national aktive Volksdeutsche) und 2 (national passive Volksdeutsche) eingeschriebenen Personen erhielten alsdann sofort die deutsche Staatangehörigkeit zuerkannt und waren uneingeschränkt wehrpflichtig, selbst wenn sie vorher in den polnischen Streitkräften gedient hatten. 

An der Westfront neigten die Soldaten zu Desertionen

Mitglieder der Liste 3 galten als „polonisierte“ Deutsche beziehungsweise wurden hier besondere ethnische Minderheiten wie die Schlonsaken, Kaschuben und Masuren erfaßt. Sie erhielten nur „widerruflich“ die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt und waren dann gleichfalls wehrpflichtig. Angehörigen der Volksliste 4, welche als „deutsche Renegaten“ galten, konnte nur in Ausnahmefällen die deutsche Staatangehörigkeit zuerkannt werden. Sie brauchten aber dafür nicht in der Wehrmacht zu dienen.  

Allerdings erfolgte die Einschreibung von Personen in diese Volkslisten auf Grundlage sehr unklarer Kriterien, was häufig dazu führte, daß sich Verwandte, teilweise sogar Eltern und Kinder, in unterschiedlichen Eingruppierungen der „Volksliste“ vorfanden. Auch mußte man die Menschen seitens der deutschen Verwaltungsbehörden zur Eintragung in die „Volkslisten“ geradezu nötigen, weil den Polen ein Bedürfnis dafür unnötig schien. 

Im Buch wird auf Grundlage von Zeitzeugenaussagen und Soldatenbriefen auf die Lebensbedingungen und die militärische Ausbildung von Polen in der Wehrmacht eingegangen. Häufig mußten diese in Schnellkursen zuvor wenigstens etwas Deutsch erlernen. Die genaue Zahl der von den Landsern oft als „Beutekameraden“ bezeichneten Polen in Wehrmachtsuniform ist unbekannt. Es gibt Schätzungen, daß über 200.000 ehemalige Staatsbürger des ersten Kriegsgegners mit polnischer oder kaschubischer Muttersprache eingezogen wurden. In den Wehrmachtsakten wurden diese allerdings nicht gesondert ausgewiesen, und längst nicht jeder Soldat mit polnischem Namen gehörte zu ihnen – man denke an jene aus dem Ruhrgebiet stammenden Deutschen mit polnischen Wurzeln.

An der Ostfront gegenüber der Roten Armee kämpften die Polen in Wehrmachtsuniform meistens ganz verläßlich, während sie an der Westfront zu Desertionen neigten. Erstaunlicherweise gab es aufgrund von Freiwilligenmeldungen sogar eine ganze Reihe polnischer, vor allem oberschlesischer Waffen-SS-Soldaten, selbst wenn die nationalsozialistische Führung im Unterschied zu geschlossenen Einheiten aus Ukrainern oder ethnischen Russen niemals polnische Waffen-SS-Einheiten bildete. Insgesamt 59 Oberschlesier wurden mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet, wie auch die Oberschlesier im allgemeinen als recht brauchbare Soldaten galten, wenn nur ihre Kommandeure sie in ihrer Eigenart „zu nehmen“ verstanden. 

Allerdings zeigen gerade die drei eingangs genannten Fakten, welche nicht in dem Buch von Kaczmarek Erwähnung fanden, daß die Erforschung der Geschichte der Polen in Wehrmacht und Waffen-SS erst am Anfang steht.

Ryszard Kaczmarek: Polen in der Wehrmacht. Verlag De Gruyter-Oldenbourg, München 2017, gebunden, 244 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro